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Im Wortlaut

Silvesterpredigt von Bischof Gregor Maria Hanke OSB am 31. Dezember 2010 im Eichstätter Dom


Liebe Schwester und Brüder,
liebe Mitbrüder,

das Jahr 2010, so hört man in diesen Tagen, ist wohl eines der schwierigsten Jahre für die Kirche gewesen. „Die Kirche in ihrer schwersten Krise“, so las ich kürzlich eine Überschrift. Wir haben eine hohe Zahl von Kirchenaustritten zu verzeichnen. Auch in unserem Bistum ist die Zahl derer, die der Kirche den Rücken gekehrt haben, erschreckend hoch und schmerzlich. „Was ist los bei uns?“, fragen sich viele. Es werden allerlei Analysen der Krise angeboten. Sicherlich müssen wir von einer Glaubenskrise als Grundlage dieses Phänomens ausgehen. Und noch dazu ist das Glaubenswissen erschreckend gesunken. Gewiss wird man hier Fragen zur künftigen Konzeption unseres Religionsunterrichtes stellen dürfen, ebenso zur künftigen Vorbereitung auf die Sakramente. Aber die Glaubensinhalte greifen nicht mehr. Nach Umfragen glaubt nur noch die Hälfte der Katholiken an ein Leben nach dem Tode und lediglich ein Drittel an die Auferstehung Jesu. Übertragen wir diesen bröckelnden inhaltlichen Konsens auf einen Staat und die Grundwerte seiner Verfassung, so wäre solch ein Gebilde bald nicht mehr lebensfähig.

Glaubenskrise – und dann gibt es die Vertrauenskrise. Die pädophilen Vergehen durch Priester und Ordensleute haben das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Kirche vielfach erschüttert. Der Umgang der Kirchenvorgesetzten mit solchen Vergehen und mit den Tätern hat sich in der Vergangenheit in nichts vom Umgang weltlicher Einrichtungen und Dienstvorgesetzter unterschieden. Man hat agiert nach dem Dreischritt: Versetzen – Therapie – Wiedereinsetzen. So war der damalige Weg in der Gesellschaft etwa auch im schulischen Bereich, aber auch in der Kirche. Die Kirche war auf der Höhe der Zeit, so könnte man sagen. Und genau das wirft man uns heute vor. Wir hätten also deutlicher Sünde als Sünde benennen müssen und Vergehen als Vergehen. Weil sie zuviel Welt gezeigt hat, steht sie, die Kirche, heute in der Kritik und muss sich dem enttäuschten Vertrauen stellen. Das sollte uns in der Kirche nachdenklich stimmen. Vertrauen werden wir offensichtlich dann und dort erwecken, wo wir die Wirklichkeit Gottes, den Anspruch Gottes in diese Welt tragen.

Glaubenskrise, Vertrauenskrise, Autoritätskrise – die Lehren der Kirche finden im pluralistischen Angebot dieser Zeit nur noch wenig Akzeptanz, so wird festgestellt. Man sättigt sich bei der Sinnsuche an anderen Quellen. Und dann wird gerne noch die Vermittlungs- und Kommunikationskrise angeführt. Der Kirche sei es zu wenig gelungen, die seit 2002 geltenden Leitlinien in Sachen sexuellen Missbrauchs als Grundlage des Handelns zu kommunizieren. Während Fachleute aus der forensischen Psychiatrie unsere Leitlinien als vorbildlich loben, ist es uns als Kirche offensichtlich nicht gelungen, die Öffentlichkeit vom Perspektivwechsel zu Gunsten der Opfer zu überzeugen. Ebenso wenig von der Tatsache, dass die Kirche beim Thema Pädophilie nicht das Problem in der Gesellschaft darstellt, wohl aber, das ist traurig genug, an diesem Problem der Gesellschaft Anteil hat. Kritiker halten uns entgegen, wir in der Kirche müssten die mediale Kommunikation verbessern. Hier mag sich in der Tat für uns auch noch ein Lernfeld auftun für Aspekte der Krise, die sich in verschiedenen Verlautbarungen und Äußerungen immer wieder finden.

Viele unternehmen es derzeit, der Kirche Rezepte mit Medizinen zu verschreiben, um ihr wieder zu einem neuen Image zu verhelfen. Da werden einerseits Managementtheorien bemüht, die der Kirche als Institution wieder auf die Beine helfen und sie attraktiver erscheinen lassen sollen. Ab sofort null Toleranz gegen Fehler auf der Leitungsebene, bessere Kommunikation usw. . Andere wiederum sehen das Heil in einer strukturellen Modernisierung der Kirche. Man solle über die Freigabe des Zölibates, über die künftige Rolle der Frau in der Kirche diskutieren und die Kirche endlich in diesem Sinne modernisieren, so sagen sie. Mich als Bischof bewegt persönlich in dieser Zeit vor allem die Frage: Was will Gott uns durch diese Situation sagen? „Die Kirche in ihrer schwersten Krise“, so lautete eine Überschrift in einem katholischen Organ. Das stimmt freilich so nicht, denn die Geschichte der Kirche ist eine Geschichte des unentwegten Ringens, des Dialogs, des Kampfes, der Auseinandersetzung. Gottes Wille war in der Geschichte nie ein Selbstläufer. Gott spielt seit jeher mit hohem Einsatz, da er sein Wort und seine Sendung der menschlichen Freiheit anvertraut. Die Freiheit aber, und das wissen wir aus unserem eigenen Lebensweg, die Freiheit muss immer neu in die Krisis, in die Entscheidungssituation, geführt werden, damit sie, die Freiheit, antwortfähig wird.

So schauen wir auf die erste große Krise in der Jüngerschaft unter dem Kreuz des Herrn auf Golgota. Ein Jünger war übrig geblieben und die starken Frauen um Maria. Wir blicken weiter zurück auf die vielen Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte, ja die bis heute andauern. Etwa auf jene Verfolgung in Nordafrika im 3. Jahrhundert, als nicht wenige Christen abfielen und dem Kaiser das Opfer darbrachten. Man war fassungslos und ratlos. Bischof Cyprian von Karthago ist Zeuge dieser Ratlosigkeit. Ja, man war fassungslos, dass es so etwas überhaupt geben könne, als Getaufter von Christus noch einmal abzufallen. Eine ungeahnte theologische und pastorale Krise in der Kirche.

Die Überschrift „Die Kirche in ihrer schwersten Krise“, das lässt weiter an die Lehrstreitigkeiten und Spaltungen im 4. Jahrhundert denken. Als die Christenheit mehrheitlich der arianischen Irrlehre folgte und in Jesus Christus nicht mehr den ewigen Sohn Gottes erkannte. „Die Kirche in ihrer schwersten Krise“, das könnte man auch auf die Zeit der Reformation übertragen, als viele Kleriker und Theologen sich der neuen Lehre Luthers zuneigten und die anderen mehr oder weniger gelähmt oder untätig waren.

Liebe Schwestern und Brüder, nur beispielhaft seien diese Etappen, diese krisenvollen Etappen aus der Geschichte angeführt. Uns soll das Konzept interessieren, das durch diese Krisen hindurch in der Kirche wirksam war.

Ein erstes, es sind durchgängig wenige, eine kleine Zahl, die eine Veränderung und einen Weg aus der Krise suchten und die daraus eine Bewegung im nächsten Schritt werden ließen. Die katholische Reform nach der Reformation war getragen von Gestalten wie dem hl. Ignatius von Loyola und den Gefährten des von ihm begründeten Jesuitenordens. In unserem Raum Petrus Canisius und später Pater Jakob Rem. Dann von dem seeleneifrigen, pastoral begnadeten Karl Borromäus, Erzbischof von Mailand.

Ähnliches lässt sich sagen über die Kirchenkrise im 4. Jahrhundert. Einzelne Köpfe wurden initiativ, oft unter großen Anfeindungen, und sie gewannen andere, die mit ihnen zusammen an Problemlösungen und an der Heilung arbeiteten. Ein Athanasius von Alexandrien, ein Basilius der Große in Kleinasien, ein Hilarius von Poitiers, ein Paulinus von Trier, um nur einige Namen zu nennen. Dass der Herr einzelnen seine Sendung anvertraut, gerne aber jedem Einzelnen von uns, zeigt uns das Evangelium mit der Aussendung der 72 Jünger und der Aussendung der elf durch den auferstandenen Herrn. Eine Sendung, deren Inhalt darin bestand, die Welt zu verändern.

Es ist unvorstellbar, was der Herr dem Einzelnen zutraut. Er sucht nicht die Massen, sondern den einzelnen Menschen, diesen aber ganz. Der hl. Johannes Chrysostomus drückt es einmal so aus, was an den elf, dann später wieder an den zwölf Aposteln geschehen war. Er schreibt: „Denn wie kamen zwölf ungelehrte Männer dazu, ein so großes Unternehmen anzufangen. Sie, die auf Seen und Flüssen als Fischer oder in Einöden gelebt hatten und vielleicht noch nicht einmal eine Stadt oder einen Markt gesehen hatten. Wie kamen sie dazu, sich gegen eine ganze Welt zu stellen? Dass sie furchtsam und mutlos waren, zeigt der Evangelist, der über sie geschrieben hat, dass sie nach der Gefangennahme Christi trotz so vieler Wunder geflohen waren und dass der erste von ihnen den Herrn verleugnet hatte. So ist es denn offenbar, wenn sie nicht den Auferstandenen gesehen und den größten Beweis seiner Macht erhalten hätten, dann hätten sie nicht mit so hohem Einsatz gewürfelt.“

Die Kraft des Einzelnen und der kleinen Anzahl wächst aus der Zeugenschaft für den Auferstandenen. Irgendwann hat der Zeuge Christi in seinem Leben eine Wende, eine Kehrtwende zu Christus hin vollzogen. Das gilt für die Elf, die ausgesandt werden, um den Erdkreis zu verändern nach der Auferstehung des Herrn. Das gilt für einen Basilius dem Großen, das gilt für einen Ignatius von Loyola. Das soll für uns gelten. Der Zeuge Christi kennt den Herrn. Er begegnet ihm. Er berührt ihn. Und nur so kann er Zeuge sein aus der Begegnung, aus der Berührung, aus der Gemeinschaft mit dem Herrn. Diese Hinwendung zum Auferstandenen bezeichnet die geistliche Tradition als die Dauerhaltung der Bekehrung, der „conversatio morum“. Sie ist wie die Nordung eines Kompasses. Wo immer er sich befindet, wo immer er aufgestellt wird, richtet er sich aus Richtung Norden. Der Zeuge Jesu Christi richtet sich, wo immer und in welcher Lebenslage er steht, er richtet sich immer neu aus auf Jesus Christus, auf die Begegnung mit ihm. Diese Bereitschaft zur Bekehrung, zur Kehrung hin zum Auferstandenen als Dauerhaltung, zeichnet den Zeugen aus.

Diese Zeugenschaft ist uns übertragen durch die Taufsendung. Das ist der Inhalt der Taufsendung, Zeuge Jesu Christi zu sein in dieser Welt, Zeuge der neuen Wirklichkeit. Und so lädt uns diese Situation der Kirche ein zu fragen: Wo berühre ich denn den Auferstandenen in meinem Leben? Wo begegne ich dem Auferstandenen in meinem Leben? Wo stehe ich in erfahrbarer Gemeinschaft mit ihm? Unser Glaube wird oft viel zu sehr abgespult. Es fehlt das Feuer der Zeugenschaft.

Zeuge Christi zu sein, das ist die wahre Zeitgenossenschaft des Christen. In einer Brotvermehrungserzählung fordert der Herr die Jünger zunächst, ehe er das Wunder wirkt, auf: „Gebt ihr ihnen zu essen!“(Mk 6,37) Was meint er damit, „gebt ihr ihnen zu essen“, den Hungrigen. Er fordert uns auf, seine Zeugen zu sein, Zeugen seiner Botschaft, seiner Wirklichkeit, um die Welt zu sättigen.

Liebe Schwestern und Brüder, mir ist nicht Angst vor der Zukunft, wenn sich unter uns immer wieder Zeugen des Auferstandenen finden. Ja, diese Zeugenschaft kann uns Vertrauen in die Zukunft, in die Zukunft der Kirche geben. Und vielleicht sollten wir manchmal beten um mehr Zeugenschaft und um weniger Bürokratie und Management. Zeugen der Auferstehung zu sein, das ist unsere Aufgabe, das ist unser Auftrag und das ist das Schöne an unserem Glauben.

Ich danke ihnen allen, liebe Schwestern und Brüder, die sie oft unsichtbar auf verborgene Weise Zeugen dieses österlichen Glaubens waren. Sie, die Eltern in ihren Familien, vielleicht oft unter schweren Bedingungen. Gerade dann, wenn die Kinder, die Heranwachsenden ihr Zeugnis nicht hören wollten. Ihnen, den älteren Menschen, die oft Kreuz und Leid ertragen müssen, danke ich für die Zeugenschaft, die sie ausüben, wenn sie sich bewusst im Vertrauen auf Gottes Beistand unter das Kreuz stellen.

Aber auch den Jugendlichen, den vielen Ministrantinnen und Ministranten, die ihren Dienst tun und dafür oft von ihren Altersgenossinnen und –genossen belächelt werden. Ich danke besonders auch allen Priestern, den Priestern unseres Bistums für die gelebte Zeugenschaft. Die Priester möchte ich ganz besonders erwähnen nach diesem oft für sie nicht einfachem Jahr.

Ich danke meinen Mitarbeitern im Domkapitel, besonders dem ehemaligen Generalvikar und dem neuen Generalvikar für alle Unterstützung und für alle Zeugenschaft. Ich danke den vielen, zahllosen Ehrenamtlichen, die sich draußen in unseren Pfarreien auf vielfältige Weise engagieren, durch Hintergrunddienste, durch liturgische Dienste, damit das Wort Gottes lebendig bleibt, damit die Gemeinschaft, die Gebetsgemeinschaft lebendig bleiben kann.

Und uns alle, liebe Schwestern und Brüder, lade ich ein, den Weg der Zeugenschaft zu gehen. Dann gilt uns das Wort der Heiligen Schrift, das angeblich 365mal vorkommen soll: „Fürchtet Euch nicht!“ - Amen!