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Im Wortlaut

Hirtenwort des Bischofs von Eichstätt Gregor Maria Hanke OSB zur Adventszeit am Christkönigssonntag, dem 25. November 2018

Liebe Schwestern und Brüder,

in seinem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ hat Papst Franziskus das Wort von der zerbeulten Kirche geprägt. Der Papst begründet das so: wenn sich die Kirche unter die Menschen mischt, ja selbst aus Menschen besteht, kommt sie nicht ohne Beulen davon.

In unseren Tagen hat dieses Bild des Papstes eine weitere, schmerzliche Bedeutung erhalten. Die Kirche erscheint verbeult durch verschiedene Krisen und Skandale. Die Glaubwürdigkeit und Zeugniskraft der Kirche ist dadurch verdunkelt. Das Ansehen der Kirche nimmt ab und sie verliert dadurch auch ihre Anziehungskraft gegenüber unserer säkularisierten Gesellschaft.

Priester und Laien engagieren sich mit großem persönlichen Einsatz in unseren Pfarreien, Gremien und Verbänden. Doch trotz unseres Mühens erleben wir den Rückgang der kirchlichen Praxis. Wir sind bestrebt, als Kirche den Menschen zu dienen. Wir tun dies durch das Engagement für Kindertagesstätten, in der schulischen Bildung, in Beratungsdiensten, in Jugendfürsorge und Caritas. Aber unser Einsatz als Kirche und unser Wirken in die Gesellschaft hinein scheint uns zwischen unseren tätigen Händen zu zerrinnen. Es bleibt der Eindruck einer verbeulten und armseligen Kirche.

Mystik der offenen Augen: Sehende Menschen werden

Wie sollen wir diesen Bedeutungsschwund unseres kirchlichen Daseins verstehen? Vor allem: Wie können wir ihn im geistlichen Sinn deuten?

Um die Situation der Kirche richtig zu verstehen, müssen wir zu einer neuen Haltung gelangen, die der Theologe Johann Baptist Metz die „Mystik der offenen Augen“ nennt. Aufwachen, die Augen öffnen, wachsam sein! Das ist der Bekehrungsprozess, der von uns gefordert ist.

Wir müssen im geistlichen Sinne zu sehenden Menschen werden. Jesus selbst weist immer wieder darauf hin, dass es in seiner Nachfolge auf das richtige Sehen ankommt, nicht nur durch seine Wunder, in denen er die Blinden heilt, sondern vor allem durch seine Verkündigung. Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter stellt er uns den sehenden Menschen vor. Der schaut nicht weg, sondern sieht die Not dessen, der unter die Räuber gefallen ist. Der sehende Mensch ist befähigt für das göttliche Geheimnis, nicht diejenigen, die fixiert auf den Tempel zueilen, aber blind für den Nächsten sind. Am Ende kommt es auf das rechte Sehen an, wie Jesu Gerichtsrede im Matthäusevangelium nahelegt. Es kommt darauf an, Jesus in den Geringsten erkannt und gesehen zu haben. So fragen ihn auch die Gerechten: „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben oder durstig und dir zu trinken gegeben?“ (Mt 25,37)

„Seht das Lamm Gottes“, ruft Johannes der Täufer den Menschen zu, als er am Jordan Buße predigte und Jesus unscheinbar aus der Menge kommen sah (Joh 1,29). Als Bischof schließe ich mich diesem Ruf des Johannes an: Liebe Gemeinde, liebe Gläubige, öffnet die Augen, um Jesus, das Lamm Gottes, mitten unter uns zu erkennen.

Frei von geistlichen Sehstörungen

Im Geiste Jesu sehen zu lernen, macht frei von Sehstörungen, die den Weg der Jüngerschaft behindern: frei von der Sorge um das eigene Ich, um das eigene Ansehen, die eigene Macht und Überlegenheit. Christ sein, Jüngerin und Jünger Jesu sein, ist Schule des Sehens, um die Sichtbarkeit der Spur Gottes im Leben zu entdecken, um Gottes Kommen und Anwesenheit nicht zu übersehen.

Durch menschliches Versagen und Sünde steht die Kirche entzaubert da und ihre Armseligkeit wurde für alle sichtbar. So wie wir uns um unser eigenes Ansehen und unsere eigene Geltung sorgen, so wünschen wir uns auch eine bedeutsame und angesehene Kirche. Frei von geistlichen Sehstörungen können wir anders auf die Kirche blicken. Die neue Sehkraft im Geiste Jesu lässt uns erkennen: Kirche sein bedeutet nicht zwangsläufig, Erfolg zu haben. Schon das Leben Jesu zeigt uns diese Wahrheit. Kirche sein in der Verheißung des Herrn geht im Wenigerwerden, im Abbruch, selbst dann, wenn irdische, gesellschaftliche Sicherheiten wegfallen, ja wenn der Boden unter unseren Füßen schwankt.

Gott kommt an in unserer Armseligkeit

Liebe Brüder und Schwestern, der Blick auf das Weihnachtsgeheimnis, auf das wir uns in der nun bald beginnenden Adventszeit vorbereiten, kann diesen herausfordernden Gedanken vertiefen. An Weihnachten feiern wir die Menschwerdung Gottes, der als hilfloses und ohnmächtiges Kind in Betlehem zur Welt kommt. Wir feiern Gottes Ankunft in der Armseligkeit des Stalls und der Krippe.

So dürfen wir doch vertrauen, dass der Herr in der gegenwärtigen Lage der Kirche mit den Erfahrungen von Entblößung und Ohnmacht gerade in unserer Armseligkeit zugegen ist. Die Botschaft von Betlehem zeigt uns, dass unsere Armut und unser Kleinsein den Raum für sein Kommen heute bilden. Bischof Klaus Hemmerle formulierte einmal: „Wir, wie wir sind, das ist der Kelch, den der Vater dem Sohn zu trinken gibt.“ Das Wort lässt sich im Blick auf unsere Situation weiterdenken: Wir, wie wir sind, sind die Krippe, in die Gott heute ankommen will.

Die Betrachtung der Krippe des menschgewordenen Gottessohnes möge die Mystik der offenen Augen fördern, damit wir sehen, wie sich in unserer Ohnmacht und Armseligkeit dennoch das Geheimnis Christi vergegenwärtigen kann.

Gott wirkt im Unscheinbaren

Öffnen wir unsere Augen des Herzens, um die Größe im Kleinen und schwach Erscheinenden zu sehen. Im Unscheinbaren kann Gott ankommen, im Sakrament des Alltags ist er gegenwärtig. Unser pastorales Wirken, das Miteinander in Ehe und Familie sowie in der Pfarrgemeinde erhalten eine tiefere Bedeutung durch die neue Sehkraft. Das Wesentliche unseres Kircheseins kann sich oft im Kleinen ereignen, vielleicht in einer Begegnung, im Gespräch, in einem guten und offenen Wort, in einem Zeichen, auch in einer Zumutung, im Gebet. Es lohnt sich, nach der verborgenen Perle zu suchen, nach dem Senfkorn, nach der winzig kleinen Menge des Sauerteigs. Kleines macht unser Leben reich, verheißt das Evangelium, denn der Same des Gottesreiches ist klein. Die Erfahrung der Gegenwart Gottes im Kleinen und Unscheinbaren gibt Grund zur Freude.

O Heiland reiß die Himmel auf, beginnt ein bekanntes Adventslied. Es geht um das Sehen, um das Aufdecken und Durch-Blicken auf den Grund unseres Lebens. Möge die Mystik der offenen Augen jeden und jede das Wunder des immer neuen Kommens und der Gegenwart Gottes im Leben und im Miteinander erfahren lassen. Daraus wächst wahre Freude in uns und im Miteinander.

Liebe Schwestern und Brüder, lassen wir uns nicht entmutigen. In der vergangenen Woche hat eine große Zahl Ehrenamtlicher ihren Dienst in den neugewählten Kirchenverwaltungen begonnen. Ich nenne sie stellvertretend für die vielen anderen Ehrenamtlichen, die Priester, Diakone und hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pastoral und den caritativen und pädagogischen Einrichtungen, die täglich auf vielfältige Weise für das Reich Gottes arbeiten. Ihr Einsatz ist nicht umsonst!

Der allmächtige Gott helfe uns, das Wunder seiner Gegenwart auch im Kleinen und Unscheinbaren zu erkennen und aus dieser weihnachtlichen Freude zu leben.

Dazu segne Sie alle der Dreieinige Gott, der Vater und der Sohn und der Heilige Geist.

Eichstätt, am Gedenktag unserer Lieben Frau in Jerusalem, den 21. November 2018
Ihr

Gregor Maria Hanke OSB
Bischof von Eichstätt