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09.11.2023

Judaica aus Sulzbürg: „Einblick in untergegangenes Leben“

Repro: Universtätsbliothek Eichstätt

Ausschnitt der Seiten 2 und 3 aus dem jüdischen Gebetbuch „Siddur Sefat Emet“, das Julius Freising aus Sulzbürg gehörte. Repro: Universitätsbibliothek Eichstätt

Foto: Dr. Franz Heiler

Auch ein Tora-Fragment gehört zum Sulzbürger Judaica-Bestand. Foto: Dr. Franz Heiler

Repro: Universitätsbibliothek Eichstätt

Auschnitt aus der „Aufrufung zur Tora der jüdischen Gemeinde Sulzbürg“, einem Buch, das verzeichnet, welches Gemeindemitglied an welchem Tag aus der Tora vorgelesen hat. Repro: Universitätsbibliothek Eichstätt

Eichstätt/Sulzbürg – An diesem Donnerstag jährt sich zum 85. Mal die Reichspogromnacht, in der viel jüdisches Leben in Deutschland zerstört wurde. Im oberpfälzischen Sulzbürg, einem Gemeindeteil von Mühlhausen im Landkreis Neumarkt, wird dieser Gedenktag für die Opfer der Novemberpogrome 1938 mit einer besonderen Veranstaltung begangen: Die Rückgabe eines jüdischen Gebetbuches an Erben des früheren Besitzers Julius Freising, die es wiederum der Gemeinde Mühlhausen schenken. Es ist bereits die dritte Restitution dieser Art in diesem Jahr.

Das Exemplar des „Siddur Sefat Emet“, das auch heute noch das am weitesten verbreitete Gebetbuch in den jüdischen Gemeinden in Deutschland ist, stammt aus einem Bestand, den das Eichstätter Priesterseminar vor beinahe vier Jahrzehnten in die Obhut der Bibliothek der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt gegeben hat. Monika Springer, eine in Deutschland wohnende Enkelin des Bruders von Julius Freising, wird das Buch in Sulzbürg entgegennehmen und dieses seltene Erinnerungsstück an den deutschen Ursprung der Familie, ihre Integration und deren schreckliches Ende der Gemeinde Mühlhausen übereignen. Durch diese Schenkung soll die Erinnerung an die große, traditionsreiche jüdische Gemeinde in Sulzbürg wachgehalten und bewahrt werden. Das Buch soll im Landlmuseum Sulzbürg ausgestellt werden.

Forschungsgruppe zeichnet Lebenslinien nach

In Sulzbürg, knapp 20 Kilometer südlich von Neumarkt, bestand jahrhundertelang eine jüdische Gemeinde, die durch die Deportation der letzten jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner im Jahr 1942 ausgelöscht wurde. Seit 1985 verwahrt die Eichstätter Universitätsbibliothek in ihrer Eigenschaft als ehemalige Staats- und Seminarbibliothek einen Bestand von vier hebräischen Handschriften und 52 hebräischen Drucken, die höchstwahrscheinlich alle aus Sulzbürg stammen. Dieses Konvolut hatte der katholische Pfarrer Heinrich Meißner – von 1944 bis 1984 Ortsgeistlicher in Sulzbürg – dem ehemaligen Regens des Eichstätter Priesterseminars Prof. Andreas Bauch übergeben, der sie im Jahr 1985 der Bibliothek schenkte.

Die Unibibliothek hat in einem vom Deutschen Zentrum Kulturverluste (DZK) geförderten Projekt die Herkunft des Sulzbürger Judaica-Bestandes erforscht. An der Identifizierung der Bücher arbeiteten Dr. Heike Riedel und Dr. Franz Heiler von der Abteilung Historische Bestände an der Universitätsbibliothek, Prof. Dr. Heide Inhetveen aus Sulzbürg, der Judaist Dr. Wenzel Widenka, der Historiker Oliver Sowa sowie der Vorsitzende des Diözesangeschichtsvereins, Prof. Dr. Erich Naab, zusammen. „Das war eine schöne, fruchtbare Zusammenarbeit“, sagt Naab rückblickend. Die Forschungsgruppe fand heraus, dass die Bücher den Zeitraum zwischen dem frühen 18. Jahrhundert und dem beginnenden 20. Jahrhundert abdecken. Und dass es sich dabei mit wenigen Ausnahmen um religiöse Gebrauchsliteratur handelt. Viele Bände sind in einem sehr schlechten Zustand, der von ihrer regen früheren Benutzung und ungünstigen Aufbewahrungsbedingungen zeugt. „Wahrscheinlich befanden sich alle Bücher ehemals in privatem Besitz jüdischer Familien, wie aus zahlreichen handschriftlichen Einträgen in hebräischer, jiddischer und deutscher Sprache hervorgeht. Manche der genannten Namen konnten bislang nicht eindeutig zugeordnet werden, andere dagegen bezeichnen zweifelsfrei Personen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden“, heißt es in einem Bericht auf der Website der KU Eichstätt-Ingolstadt. Auch das Exemplar aus dem Besitz von Julius Freising mit einem Umfang von 144 Blättern, das an diesem Donnerstag in Sulzbürg übergeben wird, ist in einem schlechten Erhaltungszustand in die Unibibliothek gekommen: „Das Titelblatt und ein paar weitere Seiten fehlen, weswegen bislang nicht geklärt werden konnte, wann dieses Exemplar erschienen ist – vermutlich zwischen 1866 und 1900“, erklärt Dr. Franz Heiler.

Trotz intensiver Recherche konnte die Arbeitsgruppe an der Unibibliothek den „Lebensweg“ der Bücher nicht komplett rekonstruieren. Der frühere Regens des Eichstätter Priesterseminars, Prof. Dr. Andreas Bauch, übergab kurz vor seinem Tod 1985 der Seminarbibliothek die vier Handschriften und 54 gedruckten Bände in hebräischer beziehungsweise jiddischer Sprache. Bauch hatte den Bestand von Pfarrer Heinrich Meißner (1914-2001) erhalten, der von 1944 bis 1984 tätig war. Unbekannt ist allerdings, wie die Bände in den Besitz des Pfarrers gelangten und wann Meißner den Bestand an Bauch übergeben hat. Da Meißner erst zwei Jahre nach Deportation der letzten Juden aus Sulzbürg dort seine Stelle antrat, kann er sie laut den Forschungsergebnissen zumindest nicht von ursprünglichen Besitzerinnen und Besitzern erhalten haben. In der Region soll der Pfarrer als Sammler bekannt gewesen sein.

Nachforschungen erwünscht

Ziel des Projekts der Unibibliothek war es, soweit wie möglich Transparenz für den Bestand im Hinblick auf die Besitzverhältnisse, aber auch durch die vollständige Digitalisierung der Bände herzustellen. So konnten zum Beispiel viele der Personen identifiziert werden, die sich als Besitzende in die Bücher eingetragen haben. Mit Ausnahme eines einzigen Bandes, dessen Erhaltungszustand das nicht zuließ, wurden alle Bücher und zwei Handschriften des Konvoluts komplett digitalisiert und sind im Online-Katalog (OPAC) der Universitätsbibliothek öffentlich zugänglich. Außerdem stehen ausführliche Informationen zur Geschichte und den vormaligen Besitzerinnen und Besitzern der Bücher aus Sulzbürg auf der Projektseite zur Verfügung. Weitere Nachforschungen und Hinweise, insbesondere biographischer Natur, sind von der Unibibliothek ausdrücklich erwünscht.

Das Projekt zur Provenienzforschung, also der Herkunft, wurde zwar im Herbst 2021 abgeschlossen, die Suche nach Nachkommen der ehemaligen jüdischen Buchbesitzerinnen und -besitzer geht aber weiter, vorangetrieben vor allem von der Soziologin Prof. Dr. Heide Inhetveen, die seit 1959 in Sulzbürg lebt. Hintergrund dieser Arbeit sind die „Washingtoner Prinzipien“ und die „Gemeinsame Erklärung“ zum Umgang mit NS-Raubgut. In den „Washingtoner Prinzipien“ von 1998 verpflichteten sich 43 Staaten und 13 nichtstaatliche Organisationen, NS-verfolgungsbedingt entzogene Kunstwerke zu identifizieren und gerechte und faire Lösungen mit den Eigentümerinnen und Eigentümern oder ihren Erbinnen und Erben zu finden. In Deutschland verpflichteten sich die Bundesregierung, die Länder und die kommunalen Spitzenverbände im Jahr 1999 mit der „Gemeinsamen Erklärung“ als Träger öffentlicher Einrichtungen darauf hinzuwirken, NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter zurückzugeben. So konnte bereits im Februar diesen Jahres ein Buch aus dem Sulzbürger Judaica-Bestand an Sylvia Gruen Salomon in den USA übergeben werden. Sie ist die Enkelin von Wolf Grünebaum aus Sulzbürg, der vermutlich im Jahr 1942 in einem Vernichtungslager ermordet wurde. Eine zweite Restitution erfolgte im Mai diesen Jahres.

Nach Einschätzung von Dr. Heike Riedel, Leiterin der Abteilung Historische Bestände an der Universitätsbibliothek, handelt es sich bei den Sulzbürger Judaica „um eine überaus wichtige Quelle für das geistige Leben in der bedeutenden jüdischen Gemeinde Sulzbürg sowie ein einzigartiges Zeugnis für die Geschichte des ländlichen Judentums in der Oberpfalz“. Prof. Dr. Erich Naab fügt hinzu: „Die Bücher geben Einblick in das untergegangene Leben. Es sind keine Unikate, der ideelle Wert aber kann gar nicht mit Geld aufgewogen werden, etwa wenn ein Buch das einzige materielle Erbe, die einzige greifbare Erinnerung an die Ahnen und die oberpfälzisch-fränkische Heimat ist.“

Geraldo Hoffmann

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