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10.11.2023

„Eure Botschaft an die Welt ist Humanität“: Jüdisches Gebetbuch zurückgegeben

Foto: Dr. Franz Heiler

Regens Michael Wohner übergibt das Gebetsbuch von Julius Freising an Monika Springer (rechts sitzend: Prof. Dr. Heide Inhetveen). Foto: Dr. Franz Heiler

Foto: Dr. Franz Heiler

Stellvertretend für Kenneth Weinman, ein in den USA lebender Enkel von Julius Freising, übergab Monika Springer das restituierte Buch an den Bürgermeister von Mühlhausen, Dr. Martin Hundsdorfer (links), und den Leiter des Landlmuseums, Ludwig Schiller. Foto: Dr. Franz Heiler

Foto: Dr. Franz Heiler

Bürgermeister Hundsdorfer unterzeichnet die Restitutionsvereinbarung. Das Gebetbuch (links im Bild, neben dem Porträt von Julius Freising) wird im Landlmuseum Sulzbürg ausgestellt. Foto: Dr. Franz Heiler

Eichstätt/Sulzbürg. (pde) – „Es ist wunderbar, dass das Sulzbürger Gebetbuch meines Großvaters Julius Freising erhalten geblieben ist. Und ich glaube, dass seine Übergabe an die Gemeinde Mühlhausen die beste Form einer Würdigung meiner Großeltern ist“. Das schreibt der US-Amerikaner Kenneth Weinman in einer Grußbotschaft, die bei der Übergabe des restituierten Buches seines Großvaters am Donnerstag, 9. November, dem 85. Jahrestag der Reichspogromnacht, in Sulzbürg im Landkreis Neumarkt verlesen wurde.

Monika Springer, eine in Deutschland wohnende Enkelin von Gustav Freising, einem älteren Bruder von Julius Freising, hat das Buch stellvertretend für die Nachkommen entgegengenommen und die Botschaft vorgetragen. „So kann das Buch als Teil einer längst vergangenen, aber niemals vergessenen jüdischen Welt im Landlmuseum Sulzbürg von der Bevölkerung besichtigt, bewundert und gewürdigt werden“, schreibt Weinmann, der in Los Angeles lebt, weiter. Er bezieht sich auch auf die aktuelle weltpolitische Lage. „Wieder ist unsere Welt dem Schrecken von Tod und Vernichtung ausgesetzt, den Eure Familien und Vorfahren schon als Teil der eigenen Geschichte erlebt haben. Aber Ihr habt Euren Nachbarn, Eurem Land und der Welt gezeigt, dass dies nicht der Weg ist, wie Menschen miteinander umgehen sollen. Eure Botschaft an die Welt ist Humanität. Sie zeigt sich in der heutigen Festveranstaltung und in Eurer täglichen Lebenspraxis.“

Erinnerungskultur und Versöhnungsarbeit

Springer bedankte sich beim Regens des Eichstätter Priesterseminars, Michael Wohner, für die Restitution des Gebetbuches. Stellvertretend für Kenneth Weinman übergab sie das Büchlein an den Bürgermeister von Mühlhausen, Dr. Martin Hundsdorfer, und den Leiter des Landlmuseums, Ludwig Schiller. Das Exemplar des „Siddur Sefat Emet“, das Julius Freising gehörte, stammt aus einem Bestand der ehemaligen Staats- und Seminarbibliothek, der seit fast vier Jahrzehnten von der Bibliothek der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt verwahrt wird. Die vier Handschriften und 52 gedruckten Bände in hebräischer beziehungsweise jiddischer Sprache hatte der katholische Pfarrer Heinrich Meißner – von 1944 bis 1984 Ortsgeistlicher in Sulzbürg – dem ehemaligen Regens des Eichstätter Priesterseminars Prof. Andreas Bauch übergeben, der sie im Jahr 1985 der Bibliothek schenkte. Die Universitätsbibliothek hat inzwischen das Material erforscht, die Ergebnisse veröffentlicht und damit wesentlich zu der nun erfolgten dritten Restitution beigetragen. „Zahlreiche handschriftliche Einträge in hebräischer, jiddischer und deutscher Sprache, insbesondere konkrete Namen rufen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, ihre Gesichter, ihr Leben und ihr Schicksal in Erinnerung. Viele der Einträge lassen sich zweifelsfrei Personen zuordnen, die von den Nationalsozialisten verfolgt und ermordet wurden“, sagte Wohner.

Der Regens des Priesterseminars betonte in seiner Ansprache, worin die Bedeutung der Bücher und des Engagements von Mitarbeitenden der Universitätsbibliothek und vielen anderen Forschenden wie der Soziologin Prof. Dr. Heide Inhetveen aus Sulzbürg bestehe: „Dass hinter den materiell fast wertlosen Büchern, dass hinter scheinbar alltäglich-nebensächlichen Vermerken und Kritzeleien das Leben und Schicksal der früheren Besitzerinnen und Besitzer, Glaubenden und Betenden aufscheint, in Erinnerung gerufen und nicht der Vergessenheit anheimgegeben wird.“ Um dies zu unterstreichen zitierte Wohner die mit ihrer Familie in den USA lebende Enkelin von Wolf Grünebaum, Sylvia Gruen Salomon: „Die Rückgabe des Sidur meines Großvaters bedeutet mir und allen Verwandten sehr viel. Es ist das einzige greifbare Artefakt, das wir vom Vater meines Vaters besitzen“, habe sie bei der Restitution des Buches aus dem Sulzbürger Judaica-Bestand im Februar diesen Jahres gesagt. Salomon habe das Gebetbuch ihres vermutlich 1942 in einem Vernichtungslager ermordeten Großvaters an ihre Enkelinnen weitergegeben, als – so wörtlich – „greifbares Zeugnis für die Kraft und Widerstandsfähigkeit des jüdischen Volkes und des jüdischen Glaubens“.

Der Judaica-Bestand aus Sulzbürg und die Restitution der Bücher an die Nachkommen früherer Besitzerinnen und Besitzer sind nach den Worten Wohners sehr wertvoll für die Erinnerungskultur und die Versöhnungsarbeit. „Wie wichtig das, was wir heute hier tun, wie wichtig solche Forschungs- und Erinnerungs-, solche Bildungs- und Aufklärungsarbeit, wie wichtig Versöhnungsbemühungen sind, braucht man gerade in diesen Tagen – denke ich – nicht eigens hervorzuheben“, so der Regens des Eichstätter Priesterseminars. Die Buchrückgabe in Sulzbürg sei allen Projektbeteiligen eine Bestätigung für alles bisher Geleistete und eine Ermutigung für die weitere Arbeit. „Gehen wir gemeinsam weiter auf diesem Weg der Erinnerung, der Versöhnungsbemühungen, des gegenseitigen besseren Kennenlernens und Verstehens, der Arbeit an einer gerechteren und friedvolleren Welt“, sagte Wohner.

Julius Freisings doppeltes Exil

Bei der Buchübergabe stellte die Soziologin Prof. Dr. Heide Inhetveen aus Sulzbürg die Lebensgeschichte des Julius Freising vor. Demnach ist er am 17. Januar 1890 in Sulzbürg als dritter Sohn des Ehepaars Simon und Doris Freising geboren und starb am 14. November 1965 in New York City. Nach den Recherchen von Professorin Inhetveen erlebte Julius, der weitere sechs Geschwister hatte, so etwas wie ein „erstes Exil“ als er noch Schulkind war. Doris Freising, „vielleicht durch die vielen Geburten, die große Kinderschar und zwei Ortswechsel am Ende ihrer Kräfte“ (die Familie war inzwischen nach Freystadt und wieder zurück nach Sulzbürg gezogen), gab ihren Sohn in die Obhut ihrer älteren Schwester Regina, die mit Familie in Georgensgmünd lebte. Im Familiengedächtnis sei gespeichert, das dieser „Zwangsaufenthalt“ in Georgensgmünd Julius nicht gefiel. Wie lange er in Georgensgmünd war und ob er dort seinen Bäckerberuf erlernte, konnte Inhetveen nicht ermitteln.

Im Ersten Weltkrieg wurden alle fünf Freising Söhne eingezogen, einer von ihnen fiel wenige Woche nach Kriegsbeginn, ein anderer kam in England unter nicht ganz geklärten Umständen ums Leben, ein dritter wurde auf den Schlachtfeldern auf dem Festland schwer verletzt. Julius kämpfte vermutlich in der preußischen (und nicht in der bayerischen) Armee. Nach Kriegsende heiratete er die 26-jährige Bianka Bing aus Eckartshausen, vermutlich das Eckartshausen in der hessischen Wetterau. Mitte der 1920er Jahre lebten Julius und seine junge Familie (zwei Kinder) in Bochum im Ruhrgebiet, wo sich der Antisemitismus – wie überall in Deutschland – schon früh bemerkbar machte. Nach der Machtergreifung der Nazionalsozialisten 1933 war Julius wohl der erste im Geschwisterkreis, der sich zur Flucht aus dem NS-Regime entschloss. Am 15. Oktober 1938 gelang es ihm mit seiner 46-jährigen Ehefrau Bianka und ihren beiden Kindern – Ilse (18) und Martin (12) – an Bord der St. Louis Deutschland über den Hamburger Hafen zu verlassen. Zwölf Tage später betraten sie amerikanischen Boden und begannen, sich in der Fremde einzurichten. Für die Seereise der Freisings kam der Hilfsverein der Juden in Deutschland auf.

„Vom Leben der Familie Freising in New York konnte ich nur wenig in Erfahrung bringen“, erzählt Inhetveen. 1940 bewohnten die Freisings ein Appartment in der St. Mary Street der Bronx von New York. Julius hatte als „baker“ in einer Großbäckerei Arbeit gefunden. Der Census von 1940 erfasste jedoch nur drei Familienmitglieder, vielleicht – so vermutet Inhetveen – wohnte Julius Tochter Ilse bereits bei ihrem zukünftigen Ehemann Ludwig Weinman (beide heiraten am 7. Juni 1942). Ihr Sohn Kenneth, Jurist, Jahrgang 1947, lebt heute mit seiner Frau in Los Angeles. „Er ist es, der großzügig und mit kluger Überlegung das Gebetbuch seines Großvaters Julius Freising der Gemeinde Mühlhausen, dem Landlmusum und damit uns vermacht hat“, sagt Inhetveen, die von 1994 bis 2005 Land- und Agrarsoziologie an der Universität Göttingen lehrte und in Sulzbürg lebt.

„Der materielle Wert dieses Siddur Sfat Emet ist gering, es gab Siddurim, Gebetbücher für Alltag und Shabat zu Hauf“, erklärt die Soziologin. Sein immaterieller Wert sei durch den Eintrag des Eigentümers umso bedeutender. „Gerade heute, wo wir wieder des Pogroms gegen die jüdische Bevölkerung gedenken, das vor 85 Jahren auch in Sulzbürg stattfand, ist die Rückgabe eines der damals enteigneten Bücher eine wunderbare Geste, eine Geste der Erinnerung an Schlimmes, der Würdigung all derer, die solch Schlimmes bis in den Tod erlitten haben, aber auch ein Zeichen von Vergebung und Versöhnung.“

Geraldo Hoffmann

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