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Auf ein Wort: Gedanken zum Sonntagsevangelium

Mein hochverehrter Gottesfreund!

Die Sätze der Einleitung des Lukasevangeliums von diesem Sonntag gelten als die Sätze mit dem niveauvollsten Griechisch des ganzen Neuen Testaments. Aber nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich will der Evangelist sein Bestes geben. Er beteuert, dass er alles von Anfang an aufgeschrieben, sich bei Augenzeugen erkundigt, sorgfältig und ordentlich gearbeitet hat. Und dies alles, um die Lehre zuverlässig zu übermitteln. Überraschenderweise nennt er sogar einen Adressaten seiner Mühe: einen gewissen hochverehrten Theophilus. Eine Person dieses Namens ist nicht bekannt, es ist möglich, dass Lukas einen sprechenden Namen benutzt: Gottesfreund, Gottesfreundin. So könnte man den Grundgedanken dieser Einleitung auch folgendermaßen wiedergeben: Hochverehrte Gottesfreundin, hochverehrter Gottesfreund, die folgende Erzählung über das Leben Jesu, des Sohnes Gottes, habe ich für Dich aufgeschrieben.

Wer eine solche Einführung hört, fühlt sich geehrt und das ist auch die Absicht. Denn es geht um eine ehrfürchtige Angelegenheit, um ein Projekt des Allerhöchsten, des Schöpfers der Welt, des Vaters aller Menschen, Gottes selbst. Eine solche Ehrfurcht flößen auch die folgenden Verse ein. Jesus liest in seiner Heimatsynagoge aus dem Propheten Jesaja vor. Was dieser schreibt flößt beim Zuhören ein ehrfürchtiges Gefühl ein: Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe. Das ist ein hoheitliches Zitat, das Respekt einflößt. Dieser Respekt steigert sich, wenn Jesus am Ende des Evangeliums bezeugt, dass sich dieses Schriftwort heute erfüllt hat in seiner Person. Seine Geistbegabung, seine Salbung, seine Sendung bestehen darin, in all seinem Tun Gott die Ehre zu geben.

Ich frage mich, ob in unserer heutigen Zeit das Wort Ehrfurcht überhaupt eine Rolle spielt. Der Respekt oder die Achtung vor Geschehnissen und Personen scheint ja mehr und mehr verloren zu gehen. Selbst der Respekt vor Gott oder vor dem Glauben anderer Religionen steht nicht sehr hoch im Kurs. So hat das französische Satiremagazin Charlie Hebdo zum Jahrestag des Terrorattentats auf seine Redaktion ein Titelbild veröffentlicht, auf dem ein bärtiger Mann mit einer Kalaschnikow auf dem Rücken gezeigt wird. Er macht einen verwirrten, beinahe irren Eindruck, an seinem Gewand klebt Blut. Durch das über seinem Kopf gezeichnete Dreieck mit dem zentralen Auge kann man ihn als den christlichen Gott identifizieren, sein Gewand würde man eher dem Islam zuordnen. Der Text zur Karikatur: „Ein Jahr danach – der Mörder rennt noch immer herum“. Die Aussage, die vermittelt werden soll, ist nicht eindeutig und lässt viele Interpretationen zu. Eines aber wird in jedem Fall offenbar: dass hier die Ehrfurcht vor Gott und die Achtung vor anderen Religionen in Verunglimpfung und Respektlosigkeit abgleiten.

Vielleicht ist es gerade das, was unserer Zeit fehlt: die Ehrerbietung, die Hochachtung, die Pietät. Das ist keine moralische Angelegenheit, sondern eine Frage des Selbstkonzeptes. Wer Ehrfurcht kennt, kann selbstlos werden. Denn hier geht es um die Anerkennung eines Anderen, der größer ist als ich – und sei es selbst der Ärmste. Er ist mein hochverehrter Gottesfreund.

Dr. Bettina-Sophia Karwath, Kirchenzeitung vom 24. Januar 2016

Lesungen zum 3. Sonntag im Jahreskreis am 24. Januar 2016