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Auf ein Wort: Gedanken zum Sonntagsevangelium

Seid aufmerksam – mehr will Gott nicht von uns

Die jüdische Philosophin Simone Weil (1909-1943) hat sich viel beschäftigt mit einer Tugend, die auch uns helfen kann: Aufmerksamkeit. Wir kennen dieses Wort oder diese Haltung aus unserer Alltagserfahrung. Eine Freundin oder ein Freund war aufmerksam und hat uns einen Gruß zugesendet. Eine Nachricht im Radio hat uns aufmerksam gemacht auf wichtige Ereignisse in Politik und Gesellschaft. Durch ein Buch oder einen Artikel sind wir aufmerksam geworden auf eine Problematik, die wir vorher nicht im Blick hatten.

Auch unser Glaube braucht „Aufmerksamkeit“. Seid wachsam! – so heißt es im Evangelium. Wir könnten auch sagen: Seid aufmerksam! Seid aufmerksam auf das Kommen des Herrn!

Diese Aufmerksamkeit hat eine Eigentümlichkeit: Wir wissen gar nicht recht, wann und wo wir besonders aufmerksam sein sollen, denn niemand von uns weiß, wie und wann der Herr kommt. Also müssen wir unsere Aufmerksamkeit anders schulen. Es geht nicht um eine Aufmerksamkeit auf uns bekannte und gewohnte Orte Gottes.

Es geht um Wachheit und Aufmerksamkeit auf ein Geschehen, das sich in jeder Situation und zu jeder Stunde ereignen kann: Die Erscheinung der göttlicher Gegenwart. Aufmerksam sein ist das andere Wort für glauben, für hoffen, für lieben.

Unser Part ist es, zu glauben und zu lieben. Zu glauben, dass Gott allgegenwärtig ist und sich in jeder Situation, in jeder Begegnung zeigen kann. Zu lieben, das heißt zu bleiben und jede Situation, jede Begegnung zunächst anzunehmen wie sie ist. Wir meinen meistens, dass wir Gott nur begegnen können in den gewohnten Formen der religiösen Kultur, in der Kirche, im Gebet, in der Stille und so weiter.

Der Hausherr des Evangeliums aber zeigt sich ganz weltlich. Er ist Hausbesitzer und geht auf Reisen. Er hat gar nicht vor, zu beten. Es geht also um eine freie Aufmerksamkeit, um eine nicht fixierte Wachsamkeit, die mit Gott rechnet in jeder sogar unangenehmen Situationen. Es kann ein immerwährendes Gebet unseres Alltags sein, aufmerksam zu bleiben auf Gottes Spuren in meinem Leben. Mehr will Gott nicht von uns, als dass wir nicht einschlafen, dass wir das Wichtigste im Leben nicht verschlafen und uns mit den gewohnten Dingen begnügen. Diese Aufmerksamkeit auf Gottes ungewohnte Präsenz darf und kann anstrengend sein.

Die Philosophin Simone Weil war keine Christin, sie gehörte der jüdischen Religion an, praktizierte diese aber nicht. Aufmerksam geworden auf die Schönheit und auf das Leben im Alltag hat Simone Weil auf mystische Weise den lebendigen Christus erfahren – in der Arbeit, in der Natur und in der Kirche. Sie war überwältigt von der Selbstmitteilung Gottes inmitten der Welt. Ihre wache Aufmerksamkeit für Gottes Anruf mag auch uns ein Ansporn sein, uns offen zu halten für das Kommen des Herrn zu jeder Zeit und an jedem Ort. Denn Gott hat ja unsere Welt, unser Dasein gewählt, um sich zu offenbaren. Und er liebt es, als Dieb in der Nacht (Offb 16,15) oder als Unbekannter und Fremder (Mt 25) von nebenan zu erscheinen. Wie sehr braucht er unsere Erwartung, unsere Liebe und unseren Glauben, ihn dort zu entdecken. Simone Weil sagt: „Auf ihrer höchsten Stufe ist die Aufmerksamkeit das gleiche wie das Gebet. Sie setzt den Glauben und die Liebe voraus.“

Dr. Bettina-Sophia Karwath, Kirchenzeitung vom 30. November 2014

Lesungen zum ersten Adventssonntag am 30. November 2014