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23.09.2022

„Die Dramatik von den Opfern her verstehen“: Fachtagung zum geistlichen Missbrauch

Dr. Hannah Schulz. Foto: Michael Kleinert

Dr. Hannah A. Schulz, die Referentin der Fachtagung. Foto: Michael Kleinert

Eichstätt – „Man muss die Dramatik des Geschehens von den Opfern her verstehen.“ Dieser Satz von Referentin Dr. Hannah A. Schulz zog sich wie ein roter Faden durch die Fachtagung „Geistlichen Missbrauch erkennen und überwinden“, die der Fachbereich Exerzitien/Geistliche Begleitung zusammen mit der Katholischen Erwachsenenbildung im Bistum Eichstätt veranstaltet hat. Schulz sprach bewusst und aus eigener Betroffenheit von „Opfern“. Denn – so sagte sie – gesunde Ideale könnten sehr schnell zu Idolen werden, für die man bereit sei, jemanden zu opfern.

Schulz spricht einerseits aus eigener Erfahrung. Sie war lange Mitglied einer der vielen neuen Lebensgemeinschaften in Frankreich, in denen es zu geistlichen und sexuellen Übergriffen durch Verantwortliche gekommen ist. Andererseits bauen ihre Analysen auf jahrelanger Beratungspraxis mit Betroffenen auf. Dabei handelt es sich sowohl um Therapie und geistliche Begleitung von Opfern, als auch um Supervision mit Verantwortlichen, die ihr Verhalten reflektieren. Hinzu kommt die Begleitung von Gemeinschaften, die sich bemühen, ihre schwere Vergangenheit aufzuarbeiten. Ziel der Eichstätter Tagung unter der Leitung von Pfarrer Dr. Michael Kleinert und Pastoralreferentin Christina Noe war es, für das Thema zu sensibilisieren.

Wann und wo beginnt geistlicher Missbrauch? Wie offen beziehungsweise direktiv dürfen Geistliche Begleitung und seelsorgliches Gespräch sein? Wie sind Nähe und Distanz, Freiheit und Führung in einer guten Balance? Anhand von Fallbeispielen und der eigenen Praxis setzten sich die Geistlichen Begleiterinnen und Begleiter des Bistums Eichstätt sowie weitere Interessierte mit diesen Fragen auseinander. Eine grundlegende Annäherung mit Begriffsklärung durch die Referentin stand am Anfang: Das Wort „Missbrauch“ wird im Deutschen verwendet, wenn Sachen oder Personen auf eine Weise gebraucht oder benutzt werden, die falsch, schädlich, unsachgemäß, unerwünscht oder nicht vorgesehen ist. Beim geistlichen Missbrauch geschieht das im religiösen Kontext. Die Gefahr von Missbrauch sei in vielen Feldern gegeben, erklärte Schulz. Das liege einerseits daran, dass Macht und Autorität etwas Verführerisches haben. Andererseits gelte auch: „Manche Menschen sind anfällig für Missbrauch und missbräuchliche Systeme.“

Die Referentin zeigte verschiedene Schweregrade von geistlichem Missbrauch auf: Er beginne bei der Vernachlässigung, das heiße, nichts zu tun, obwohl sich jemand eine Unterstützung im geistlichen Leben erwarte. Geistlichen Missbrauch gebe es in Form von Übergriffen und Grenzverletzungen, aber auch als ständige Manipulation, die das Ziel habe, eine Betroffene oder einen Betroffenen auszunutzen oder eigene Interessen durchzusetzen. Am schwersten wiege die geistliche Gewalt, die sich laut Schulz beispielsweise in Form von psychischer Ausbeutung oder „Vergewaltigung des persönlichen Gewissens“ äußere.

Wie subtil geistlicher Missbrauch sein kann und wie sehr er sich christliche Grundüberzeugungen zu Eigen macht, wurde im weiteren Verlauf der Tagung deutlich. So könne es vorkommen, dass biblische und theologische Begriffe benutzt würden, um sie mit Forderungen zu verknüpfen: „Wenn du ein guter Christ bist, dann musst du vergeben.“ Die Frömmigkeit einer Gruppe würde zur besten Glaubensform überhaupt erklärt. Oder es werde Druck aufgebaut: „Wenn Sie wirklich an Gott glauben, dann gehen Sie jetzt diesen Schritt. Oder vertrauen Sie ihm etwa nicht?“ Macht würde fromm getarnt: „Ich habe hier eine Hirtenpflicht, deshalb sage ich …“ Die Referentin gab den Teilnehmenden auch eine Liste an Kritierien für die Beobachtung an die Hand. Häufig bereite eine Reihe von Phänomenen dem geistlichen Missbrauch den Boden. Dazu zählen die Abwertung des anderen und eine Bagatellisierung seiner Gefühle, Informationen, die vorenthalten werden, falsche Versprechungen, Fakten, die verdreht werden, verbale Attacken. „Wenn das geballt auftritt, ist Handlungsbedarf gegeben“, erklärte Schulz. „Wo dem anderen das Recht auf seine eigenen Gefühle abgesprochen wird und emotionale Bindungen ausgenutzt werden, geschehen Eingriffe in die persönliche Intimsphäre. Die Würde und Freiheit einer konkreten Person werden missachtet“, so die Expertin weiter. Dadurch würde bei den Opfern die Fähigkeit, sich aus missbräuchlichen Strukturen zu lösen, immer mehr eingeschränkt. Die Folge: Es falle ihnen immer schwerer, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, sich eine unabhängige Meinung zu bilden und die Kraft zum Widerspruch zu entwickeln. Dies könne, so Hannah Schulz, bis zu einer Art Fremdkontrolle des Denkens, Fühlens und Handelns führen.

Dass geistlicher Missbrauch im völligen Widerspruch zu einem angemessenen seelsorglichen Verhalten liegt, hat nach den Worten der Referentin auch mit dem christlichen Gottesbild zu tun. „Gott und Mensch begegnen sich in einem Raum der Freiheit. Auch Zweifel und Fragen dürfen in diesem persönlichen Freiheitsraum Platz haben.“ Diesen Raum gelte es zu achten und ihn nicht zu missbrauchen für Eigeninteressen oder falsche Machtansprüche. Hier sieht Hannah Schulz die Diözesen in ihrer Verantwortung. Sie ist sich sicher: „Die Opfer gibt es.“

Hintergrund

In Zusammenhang mit der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche diskutierten die deutschen Bischöfe im Oktober 2018 erstmals über den Umgang mit „geistlichem Missbrauch“. Auf einer Fachtagung zu diesem Thema berieten sich die Pastoralkommission, die Kommission für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste und die Jugendkommission der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Im November 2020 hat die Katholische Akademie des Bistums Dresden-Meißen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bischofskonferenz und der Sächsischen Landesärztekammer die Online-Tagung „Gefährliche Seelenführer? Geistiger und geistlicher Missbrauch“ veranstaltet. In einigen Bistümern gibt es bereits Kontaktstellen und Hilfsangebote bei Fällen von geistlichen Missbrauch.

Text: Michael Kleinert

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