Wie subtil geistlicher Missbrauch sein kann und wie sehr er sich christliche Grundüberzeugungen zu Eigen macht, wurde im weiteren Verlauf der Tagung deutlich. So könne es vorkommen, dass biblische und theologische Begriffe benutzt würden, um sie mit Forderungen zu verknüpfen: „Wenn du ein guter Christ bist, dann musst du vergeben.“ Die Frömmigkeit einer Gruppe würde zur besten Glaubensform überhaupt erklärt. Oder es werde Druck aufgebaut: „Wenn Sie wirklich an Gott glauben, dann gehen Sie jetzt diesen Schritt. Oder vertrauen Sie ihm etwa nicht?“ Macht würde fromm getarnt: „Ich habe hier eine Hirtenpflicht, deshalb sage ich …“ Die Referentin gab den Teilnehmenden auch eine Liste an Kritierien für die Beobachtung an die Hand. Häufig bereite eine Reihe von Phänomenen dem geistlichen Missbrauch den Boden. Dazu zählen die Abwertung des anderen und eine Bagatellisierung seiner Gefühle, Informationen, die vorenthalten werden, falsche Versprechungen, Fakten, die verdreht werden, verbale Attacken. „Wenn das geballt auftritt, ist Handlungsbedarf gegeben“, erklärte Schulz. „Wo dem anderen das Recht auf seine eigenen Gefühle abgesprochen wird und emotionale Bindungen ausgenutzt werden, geschehen Eingriffe in die persönliche Intimsphäre. Die Würde und Freiheit einer konkreten Person werden missachtet“, so die Expertin weiter. Dadurch würde bei den Opfern die Fähigkeit, sich aus missbräuchlichen Strukturen zu lösen, immer mehr eingeschränkt. Die Folge: Es falle ihnen immer schwerer, der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen, sich eine unabhängige Meinung zu bilden und die Kraft zum Widerspruch zu entwickeln. Dies könne, so Hannah Schulz, bis zu einer Art Fremdkontrolle des Denkens, Fühlens und Handelns führen.
Dass geistlicher Missbrauch im völligen Widerspruch zu einem angemessenen seelsorglichen Verhalten liegt, hat nach den Worten der Referentin auch mit dem christlichen Gottesbild zu tun. „Gott und Mensch begegnen sich in einem Raum der Freiheit. Auch Zweifel und Fragen dürfen in diesem persönlichen Freiheitsraum Platz haben.“ Diesen Raum gelte es zu achten und ihn nicht zu missbrauchen für Eigeninteressen oder falsche Machtansprüche. Hier sieht Hannah Schulz die Diözesen in ihrer Verantwortung. Sie ist sich sicher: „Die Opfer gibt es.“
Hintergrund
In Zusammenhang mit der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche diskutierten die deutschen Bischöfe im Oktober 2018 erstmals über den Umgang mit „geistlichem Missbrauch“. Auf einer Fachtagung zu diesem Thema berieten sich die Pastoralkommission, die Kommission für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste und die Jugendkommission der Deutschen Bischofskonferenz (DBK). Im November 2020 hat die Katholische Akademie des Bistums Dresden-Meißen in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bischofskonferenz und der Sächsischen Landesärztekammer die Online-Tagung „Gefährliche Seelenführer? Geistiger und geistlicher Missbrauch“ veranstaltet. In einigen Bistümern gibt es bereits Kontaktstellen und Hilfsangebote bei Fällen von geistlichen Missbrauch.
Text: Michael Kleinert