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Im Wortlaut

Predigt des Hochwürdigsten Herrn Bischof Gregor Maria Hanke OSB zu Silvester 2023

Liebe Schwestern und Brüder,

ein Maler wird von Zeit zu Zeit von seinem Bild auf der Staffelei zurücktreten und innehalten, um sein Werk besser wahrzunehmen und um zu erkennen, wie er es fortsetzen kann.

An Silvester blicken wir auf das Jahr 2023 wie auf ein Gemälde mit seinen hellen und dunklen Farben. Auch fragen wir, was es uns für 2024 aufgibt. Wir wollen dies im Lichte des Glaubens tun.

Unser Gedenken soll zunächst in die Ukraine gehen, wo die Bevölkerung ganzer Orte und Landstriche seit nahezu zwei Jahren in Angst vor russischen Angriffen lebt. Familien sind auseinandergerissen durch Militärdienst, Fronteinsatz, durch Flucht oder durch den Tod eines lieben Angehörigen. Wie tief mag das Leid und die Verzweiflung vieler Menschen im Gaza-Streifen sein und in jenen israelischen Familien, die der Terrorangriff des 7. Oktober brutal getroffen hat. Auch die Konflikte in Afrika, vor allem im Sudan sollen in unseren Gebeten nicht vergessen werden. Die „Raserei des Egoismus“ der Menschen mündet ein in Konflikte, in Terror und Kriege.

Das einstige politisch-demokratische und ökonomische Erfolgsmodell „Westen“ bzw. der „westlichen Welt“, von dem wir bis vor kurzem glaubten, es sei ein Exportschlager und Friedensbringer für viele Regionen auf dem Globus, sieht sich einer mächtigen Ablehnung gegenüber. Eine große Zeitung sprach von einer „Payback-Zeit“ – einer „Zeit des Heimzahlens“. Reihenweise schütteln Länder ihren einstigen West-Bezug ab, verfeindete Nationen nähern sich einander an unter dem Schirm antiwestlicher Haltung. Gegen den Westen zu sein, ist ein Marker der multipolaren Welt, in der sich neue Blockbildungen und damit gefährliche Spannungen entwickeln. Dazu fordert uns die Umweltkrise global heraus und trifft vor allem die weniger entwickelten Länder hart. In unserer eigenen Gesellschaft sind Polarisierungen und wachsende Ängste festzustellen. Die Welt verändert sich auf beunruhigende Weise.

All das scheint uns wenig Spielraum zu lassen, beim Blick zurück zu verweilen. Wir müssen uns sorgen, was die Zukunft bringt.

Trotz der Konflikte und existenziellen Nöte in vielen Gebieten der Erde und unserer eigenen Kreuze, die wir im Jahr 2023 zu tragen hatten, dürfen wir uns eingestehen, dass es uns hierzulande noch vergleichsweise gut geht. Dafür können wir dankbar sein. Wir wissen, dass wir beschenkt sind und kein Anrecht auf das Geschenk haben. Im Dank an Gott bleibt unsere Bereitschaft eingeschlossen, die Schwestern und Brüder in Not nicht vergessen. Ein Vergelt’s Gott für alle Solidarität in Gebet und oft stiller Tat, für die Hilfs- und Spendenbereitschaft im zurückliegenden Jahr.

Das Jahr 2023 konfrontierte uns mit großen kirchlichen Umbrüchen, die uns besorgt machen.

Als besonders schmerzlich wurde in unserem Bistum der Ressourcenrückgang empfunden, der uns schneller einholte als erwartet. Sehr zügig mussten Planungen zu Veränderungen und Transformation in Pastoral und Verwaltung eingeleitet werden. Das hat zunächst zu mancherlei Diskussionen und Verwerfungen geführt. Doch gilt es, die Mittelverknappung bei all unseren Planungen weiterhin im Blick zu behalten, damit wir zukunftstaugliche Wege in der Bistumspastoral einschlagen, damit Können und Wollen abgeglichen werden. Viele wünschen sich bessere Mitwirkungsmöglichkeiten bei den künftigen pastoralen und finanziellen Planungen als es die bisherigen Strukturen ermöglichen, freilich sind dafür zunächst zahlreiche juristische und strukturelle Fragen zu klären.

Im zurückliegenden Jahr wurde die Zahl der Kirchenaustritte für das Jahr 2022 veröffentlicht, die erschütternd hoch liegt. Wir erleben es in der eigenen Familie, im Bekanntenkreis, in der Pfarrei: es tut weh, wenn jemand die Gemeinschaft der Kirche verlässt.

Katholischerseits werden häufig der Umgang mit dem sexuellen Missbrauch und fehlende Modernität der Kirche als Motive des Austritts genannt.

Unterstützer des deutschen Synodalen Weges sehen die Austrittszahlen als ein ultimatives Signal an die katholische Kirche, sich endlich zu verändern, zu modernisieren. Andernfalls würden sich die Menschen in Scharen von ihr verabschieden. Laut Umfrage verlangt ein äußerst hoher Prozentsatz der Katholiken Deutschlands Veränderung und Modernisierung der Kirche. Da Kirche kein Verein ist, der sich in freier Anlehnung an gesellschaftliche Trends und Standards verändert, sondern Gemeinschaft des Glaubens an Jesus Christus, liegt es nahe, die Grundlage des Glaubens und der Religiosität der Kirchenmitglieder ins Auge zu fassen. Denn Wandel und Veränderung in der Kirche soll ja darin gegründet sein.

Es ist daher sinnvoll, die Ergebnisse der von der EKD vor wenigen Wochen veröffentlichten Kirchenmitgliedschaftsstudie über die geäußerte Erwartung nach Veränderung zu legen. Die Studie hat den religiösen Grundwasserspiegel der Bevölkerung unseres Landes beleuchtet.

56 Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung bezeichnen sich inzwischen als Säkulare, für die Religiosität keine Rolle mehr spielt. Ein nicht geringer Prozentsatz der Gruppe lehnt Religiosität sogar ab, da ihnen Religion als überholt und schädlich gilt. Ihnen geht es sozial und wirtschaftlich gut. Zudem handelt es sich bei den Säkularen um eine Personengruppe mit niedrigem Lebensalter, also um die junge Generation. Sie wird künftig zahlenmäßig wachsen, was eine weitere Erosion der Kirchenmitgliedschaft befürchten lässt. Zu denken geben sollte uns, dass sich 35 % der katholischen Kirchenmitglieder zu dieser Gruppe bekennen, dass also 35% der Katholiken mit Religiosität nichts anfangen können, bei den Protestanten lag der Prozentsatz noch höher.

Als kirchlich-religiös bezeichnen sich lediglich noch 13 % aller Befragten. Diesem Spektrum mit Kirchenbindung gehört die ältere Generation an, eine Altersklasse, die demographisch abschmilzt.

Zwischen den jungen Säkularen und den zumeist älteren Kirchlich-Religiösen tut sich das Feld der Religiös-Distanzierten auf mit 25 Prozent. Es handelt sich dabei weitgehend um Kirchenmitglieder, sowohl katholisch wie evangelisch.

Die Ergebnisse zur Befragung nach Glaubensinhalten sind ernüchternd bzw. herausfordernd für die Verkündigung. Zwar geben zwei Drittel der Kirchenmitglieder an, eine Form des Gottesglaubens zu haben, doch nur ein Drittel glaubt an einen persönlichen Gott, ein anderes Drittel einfach an ein höheres Wesen. Von den Katholiken sind es noch 32 %, die an einen Gott glauben, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat.

Selbst die Freikirchen mit ihren flachen Hierarchien ohne das für die katholische Kirche so wichtige und in Deutschland gegenwärtig kontrovers diskutierte sakramentale Amt stagnieren in Mitteleuropa, wie eine Schweizer Studie feststellte. Zwar entstehen hierzulande immer wieder neue freikirchliche Gemeinden, vor allem solche mit pentekostaler Ausrichtung. Was als Wachstum erscheint, rührt allerdings vielfach von der Migration unzufriedener Kirchenmitglieder aus den beiden Großkirchen her, also von meist evangelisch oder katholisch sozialisierten Christinnen und Christen, hinzu kommen Einwanderer aus Afrika und Asien.

Man muss nüchtern festhalten, dass sich ganz unterschiedliche „Kirchentümer“ - katholisch, evangelisch, freikirchlich und auch orthodox - durch die Erosion von Religiosität und Glauben herausgefordert sehen. Es ist sozusagen ein ökumenisch wirksames Phänomen. Auch in anderen westlichen Ländern verdunstet der kirchliche Glauben. Wir erleben eine allgemeine Krise des Gottesglaubens und Transzendenzverlust, worauf Kardinal Walter Kasper bereits vor Jahren hinwies.

Die gegenwärtige Lage der Kirche und des Glaubens muss uns jedoch keineswegs mutlos machen. Als Jüngerinnen und Jünger Jesu gilt es im Blick auf den sinkenden religiösen Grundwasserspiegel anzusetzen.

Jesus gab den Jüngern einen für alle Zeiten geltenden Auftrag: Geht hinaus in alle Welt und verkündet das Evangelium. Er schickte die Jünger nicht zu Menschen, die bereits in seinem Geiste religiös sozialisiert waren. Er mutete ihnen eine fremde Welt zu, Menschen, die nichts von ihm und seiner Botschaft wussten, die vielleicht als gebildete Griechen Skeptiker der Religion waren und nichts von ihm würden wissen wollen. Zur damaligen Zielgruppe zählten die vielen Menschen des Mittelmeerraumes, die völlig anders religiös orientiert waren als Jesus es lehrte, die Heiden waren. Mit dem Verschwinden der Volkskirche nähern wir uns einem Zustand an, der den damaligen Verhältnissen ähnlicher wird.

Als Kirche haben wir auch heute der Welt etwas zu sagen, das nicht von uns, sondern vom Herrn kommt. Der Auftrag Jesu an die Jünger ist gerade in unserer Zeit, der die Hoffnung und die Perspektive auf eine gute Zukunft zu schwinden droht, von großer Aktualität.

Jesu Sendung bedeutet heute, den Säkularen, den Religiös-Distanzierten die frohe Botschaft von der Erlösung und vom kommenden Gottesreich zu erschließen. Der Weg dorthin beginnt bei uns selbst.

Deshalb müssen wir uns zunächst mit der Frage beschäftigen, wie die Erneuerung des Glaubens an Jesus Christus in der Gemeinschaft der Kirche, unter uns gelingen kann. Papst Franziskus bewegt die Frage, wie wir Heutige von der Leuchtkraft des Evangeliums neu erfasst werden können. In seinem Schreiben Evangelii Gaudium zitiert er Papst Paul VI.: Die Welt von heute, die sowohl in Angst wie in Hoffnung auf der Suche ist, möge die Frohe Botschaft nicht aus dem Munde trauriger und mutlos gemachter Verkündiger hören … sondern von Dienern des Evangeliums, deren Leben voller Glut erstrahlt, die als erste die Freude Christi in sich aufgenommen haben (EG 10.) Und Papst Franziskus formuliert: Das Gute neigt sich mitzuteilen (EG 9).

Dem Papst liegt an einem geistlichen Zugang zur Erneuerung. Die Kirche hat sich zu wandeln im Sinne einer Erneuerung aus dem Evangelium und ihren geistlichen Quellen. Die von Franziskus initiierte Weltsynode soll dafür Vorbild sein.

Der Papst ist überzeugt, dass Umkehr zum Evangelium eine Neugestaltung kirchlicher Strukturen bewirkt und einer neuen Geschwisterlichkeit den Weg bahnt. Er spricht davon, dass Jesus uns mit seiner göttlichen Kreativität überraschen kann, die dann unsere Schablonen durchbricht (EG 11). Liebe Schwestern und Brüder, Jesus ruft in die Nachfolge, damit fordert er uns auf, uns zu bewegen, und zwar nach seinem Vorbild. Er setzt also selbst auf Entwicklung und Entfaltung in seiner Jüngergemeinde. Er nennt sich Weg, nicht Parkplatz, auf dem man stehen bleibt und den Motor abstellt.

Verlieben sich zwei Menschen, beginnen sie ihre Beziehung nicht mit Hausbauplänen und weiteren Zukunftsplanungen. Sie wollen sich immer besser kennenlernen und ihre Liebe vertiefen. Aus der Liebe wächst und konkretisiert sich die Zukunft. Für uns als Kirche aus der Vertiefung der Liebe zu Christus und zur Schwester und zum Bruder. Papst Franziskus beschreibt den Weg, Gott zu erlauben, dass er uns über uns selbst hinausführt. Darin liegt die Quelle der Evangelisierung (EG 8).

Christus ist der Weg. Er ist unsere Straßenkarte für unseren Aufbruch. Wir müssen auf ihn schauen, also ihn und sein Evangelium zur Mitte des Lebens machen. Um die Mitte kann sich ein Kreis bilden, um die Mitte muss Raum sein, in der man suchen, ringen und fragen kann, sich stützt und korrigiert. Auf die Mitte kann man aus verschiedenen Blickrichtungen schauen. Doch das Ziel der Blicke muss gleich sein: Jesus Christus immer tiefer kennenzulernen, die Beziehung mit ihm zu vertiefen, die uns untereinander verbindet.

Der Weg der Erneuerung von der Mitte aus beginnt nicht irgendwo, sondern in unseren Pfarreien, kirchlichen Gremien, Gruppen, Hauskirchen und Verbänden und geht weiter auf den übergeordneten Ebenen. Christus tiefer kennenzulernen, bezieht sich nicht nur auf die Heilige Schrift, auf das Glaubensgut, auf mein persönliches Interesse, über Themen des Glaubens ins Gespräch zu kommen. Dazu gehört ebenso die Frage, wo mir der Herr in meinem Leben begegnet. Entdecke ich ihn, vernehme ich seinen Anruf? Was will er von mir? Wie treffe ich die vielen kleinen und großen Entscheidungen des Lebens? Blicke ich dabei auf ihn, meine Mitte?

Die Zahl der Ungetauften bei uns wächst, ebenso die der Glaubens- und Kirchenfernen. Aber wir alle, ob getauft oder nicht, bleiben Menschen der Sehnsucht: der Sehnsucht nach Gerechtigkeit, der Sehnsucht nach Lebenssinn und damit nach Spiritualität, der Sehnsucht nach Beziehungen, der Sehnsucht nach dem Guten und Schönen. Aus der Kraft des Glaubens und unserer Gotteserfahrung auf diese Sehnsüchte menschlich, freundlich und mit unseren Herzen zu reagieren, kann unsere Zeitgenossen wieder auf Gott aufmerksam machen und sie etwas erahnen lassen von der Kraftressource, die der Glaube für Lebensthemen bedeutet.

Liebe Schwestern und Brüder, so ernüchternd einerseits die Kirchenmitgliedschaftsstudie ausgefallen ist, sie weist auch auf Chancen hin, wie wir mit unserer Pastoral uns ferne Menschen ansprechen können, wo Brennpunkte des Lebens liegen, wo in einer säkularen Gesellschaft Erwartungen an Kirche weiterhin bestehen. Als Bistum gehen wir mit dem Strategieprozess seit längerem einen Weg, Prioritäten einer künftigen pastoralen Planung zu entfalten, durch die wir den Menschen nahekommen. Ziel der Überlegungen ist es herauszufinden, wie wir gemeinsam die Frohe Botschaft und den Glauben der Kirche durch unseren pastoralen Dienst und unser Glaubenszeugnis als Volk Gottes in unserem Bistum zum Leuchten bringen und einladend sein können.

Ich möchte Sie alle einladen, durch Gebet und Engagement aufzubrechen, damit wir mit Gottes Hilfe befähigt werden, aus der Leuchtkraft unseres Glaubens der kleinen und großen Welt um uns herum das Licht Christi zu schenken. Der Herr traut es uns heute zu wie damals den Jüngern, die er nach der Auferstehung aussandte. Lassen wir uns nicht entmutigen, denn nach den Worten Jesu liegt die Ernte längst bereit. Die Ernte ist groß! Damals wie heute sucht er für die Ernte Arbeiter, glaubwürdige und menschenfreundliche Dienstbotinnen und Dienstboten. Lassen Sie uns trotz mancher Beschwernisse und Probleme des Jahres 2023 im Blick auf Jesus Christus als unsere Mitte dankbar und vertrauensvoll in das Jahr 2024 gehen.

Gott segne uns alle!

Gregor Maria Hanke OSB
Bischof von Eichstätt