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02.05.2025

Sozialethiker Martin Schneider: „Hinter ‚Laudato si‘ kann die Kirche nicht mehr zurück“

Felsgruppe „Zwölf Apostel“ im Altmühltal. Foto: Wolfgang Bertl

Die Schönheit der Schöpfung mit der Felsgruppe „Zwölf Apostel“ im Altmühltal. Foto: Wolfgang Bertl

Die Enzyklika Laudato si‘ hat internationale und nationale Klimapolitik sowie zahlreiche kirchliche Dokumente in den vergangenen zehn Jahren beeinflusst. „Es gibt viel beispielhaftes Handeln in der liturgischen Praxis, in der Bildungsarbeit, durch eine nachhaltige Bauweise und durch die Inkraftsetzung von Nachhaltigkeitsleitlinien und Klimaschutzkonzepten“, sagt Martin Schneider, Professor für Moraltheologie und Christliche Sozialethik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Der Experte für sozial-ökologische Transformationsprozesse sieht allerdings auch Umsetzungslücken.

Professor Schneider, vor zehn Jahren veröffentlichte Papst Franziskus die Enzyklika Laudato si‘. Welche Auswirkungen hatte sie auf Politik und Gesellschaft?

Martin Schneider: Seit dem Erscheinen von Humanae Vitae 1968 hat kein päpstliches Schreiben derart stark und nachhaltig die gesellschaftliche und innerkirchliche Debatte angeregt wie die Enzyklika Laudato Si´ (LS). Der Appell des Papstes an „die gesamte Menschheitsfamilie, sich in der Suche nach einer nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung zu vereinen“ (LS 13), hat gewirkt: Dass sich über 190 Staaten der Erde 2015 in dem Übereinkommen von Paris zum Klimaschutz (COP21) verpflichtet, die Erderwärmung auf 1,5 °C zu begrenzen – dazu hat auch er und die positive Rezeption von Laudato si‘ beigetragen. Die „Fridays for Future“-Bewegung hat im Grunde nichts anderes getan, als die Umsetzung der Pariser Einigung einzufordern. Das im Herbst 2019 in Reaktion auf die großen Klimaproteste beschlossene Klimaschutzgesetz sowie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021, das dieses Gesetz als unzureichend bewertete, können dem Wirkraum der Enzyklika zugeordnet werden.

Dies gilt auch für die in dem Urteil hervorgehobene „intertemporale Freiheitssicherung“ bzw. „intergenerationale Gerechtigkeit“. Laudato si‘ hat also einen positiven Resonanzraum vorgefunden, hat diesen aber auch inspiriert. Hier ist vor allem der Brückenschlag zwischen ökologischen Anliegen und Fragen der sozialen Gerechtigkeit zu nennen. Das Innovative an der Enzyklika ist, dass nicht nur wünschenswerte Ziele beschrieben, sondern unfaire Systemzusammenhänge und Machtinteressen klar angesprochen werden. Aktuelle Veröffentlichung des Club of Rome und des Deutschen Ethikrats schließen implizit daran an, wenn sie eine angemessene Verteilung der Lasten und Verantwortlichkeiten für die sozial-ökologische Transformation einfordern und auf eine mit dem Verursacherprinzip zusammenhängende zentrale gerechtigkeitsethische Herausforderung verweisen: nämlich darauf, dass die, die am wenigsten dafür verantwortlich sind, am meisten unter den ökologischen Schädigungen und unter den drohenden Kosten der Gegenmaßnamen zu leiden haben.

Inwieweit haben die Ortskirchen die Enzyklika ernst genommen und in den vergangenen zehn Jahren ausreichend für Umwelt- und Klimaschutz getan?

Meiner Ansicht nach wurden von Kommissionen und Arbeitsgruppen der Deutschen Bischofskonferenz mehrere sehr gute Dokumente veröffentlicht, die Impulse der Enzyklika aufgegriffen und auf politische und gesellschaftliche Herausforderungen in Deutschland bezogen haben. Zu erwähnen sind hier die von der DBK veröffentlichten Expertentexte zum Schutz des Bodens (2016) und zur Biodiversität (2021). In der Arbeitshilfe „Schöpfungsverantwortung als kirchlicher Auftrag“ (2018) wurden zehn konkrete Handlungsempfehlungen zu Ökologie und nachhaltiger Entwicklung für die deutschen (Erz-)Diözesen formuliert. Es gibt hier viel beispielhaftes Handeln, in der liturgischen Praxis, in der Bildungsarbeit, durch eine nachhaltige Bauweise und durch Inkraftsetzung von Nachhaltigkeitsleitlinien und Klimaschutzkonzepte.

Ein in Diskussionen immer wieder angesprochener wunder Punkt ist allerdings die ungenügende Umsetzung von Leitlinien und Selbstverpflichtungen bei der Verpachtung von Kirchenland. Umweltbeauftragte, Laiengremien und Verbände appellieren seit Längerem an die Diözesanleitungen, bei der Neuverpachtung von landwirtschaftlichen Flächen, die Förderung der Bewahrung von Biodiversität als Vergabekriterium zu implementieren und „sich auf einen biodiversitätsfreundlichen Betrieb von Liegenschaften, umliegenden Flächen und Friedhöfen zu verpflichten“. Diese Formulierung ist einem Beschluss des Diözesanrats der Katholiken der Erzdiözese München und Freising vom März dieses Jahres entnommen. Darin wird auch gefordert, sich für die Renaturierung von Mooren und Feuchtgebieten einzusetzen, den Bodenschutz voranzutreiben und eine erhöhte Nachfrage nach biodiversitätsfreundlich produzierten Lebensmitteln zu generieren, zum Beispiel durch den gezielten Einkauf solcher Produkte für Kantinen und Küchen in kirchlichen Einrichtungen.

Vor diesen hier formulierten Herausforderungen stehen alle (Erz)Diözesen in Deutschland. Die Umsetzungslücke ist ein nicht geringes Glaubwürdigkeitsproblem. Wer als Sozialethikerin oder diözesane Umweltbeauftragte bei zivilgesellschaftlichen Organisationen über christliche Umweltethik spricht, wird immer auch kritisch auf diese Problematik angesprochen. Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Dass der Glaube des Einzelnen nur dann als glaubwürdig angesehen wird, wenn er sich im Lebensstil und in der Praxis widerspiegelt, gilt für die Institution Kirche umso mehr. Ihre christlich-ethischen Orientierungen und Positionen in sozial-ökologischen Fragen sind nur dann glaubwürdig, wenn ihnen auch die eigene (wirtschaftliche) Praxis entspricht.

Ein Netzwerk von „Pionieren des Wandels“

Es gab auch Folgeschreiben zu Laudato si‘. Vor fünf Jahren veröffentlichten mehrere vatikanische Behörden ein gemeinsames Dokument, das Wege zu einem „ökologischen Wandel“ aufzeigte. Hat dieses Nachfolgeschreiben konkrete Veränderungen angestoßen?

In dem im Juni 2020 unter dem Titel „Auf dem Weg zur Sorge für das gemeinsame Haus“ veröffentlichten Schreiben sind konkrete Praxisbeispiele aus aller Welt für die Umsetzung der Papst-Anregungen enthalten. Es werden dabei vor allem die Vermeidung von Umweltverschmutzung, der Umstieg auf erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaften sowie Bildungsprojekte angesprochen. Ziel des Papiers ist es, über das lokale Engagement in den Gemeinden ein Netzwerk für gesellschaftlichen Wandel zu initiieren, für das man ein „exponentielles Wachstum“ erhofft. Dieser Zugang entspricht transformationswissenschaftlichen Erkenntnissen, gemäß denen Veränderungen von „Change Agents“, also von „Pionieren des Wandels“ in Gang gebracht werden, die durch lokales, gemeinschaftliches Handeln nachhaltige und solidarische Lebensstile einüben.

Diese Wahrnehmung findet eine empirische Bestätigung in dem vielfältigen Panorama an transformativen Projekten und Bewegungen, die in den letzten Jahren entstanden sind: Solidarische Landwirtschaft, Repair-Cafes, Transition-Town-Bewegung, Energiegenossenschaften, Gemeinwohl-Ökonomie, „buen vivir“. Einige Gemeinden und kirchliche Verbände sind Teil dieser transformativen Netzwerke. Weltkirchliche Hilfswerke wie Misereor verorten sich hier und verstehen ihre lokalen Projekte als Teil eines globalen, transformativen Netzwerks. In den Gemeinden in Deutschland ist allerdings eine Tendenz eines „Kreisens-um-sich-Selbst“ festzustellen; angesichts der innerkirchlichen Krisen fehlt die Kraft für Netzwerkarbeit und Beteiligung an Netzwerken oftmals. Übrigens wäre die zuvor angesprochene Neuverpachtung von Kirchenland ein Bereich, in dem die Kirche eine Akteurin des Wandels sein kann.

Papst Franziskus setzte Laudato si‘ 2023 mit dem Schreiben Laudate Deum (LD) fort. Darin appellierte er mit naturwissenschaftlichen Fakten und Argumenten an die Weltöffentlichkeit, endlich angemessen auf die Klimakrise zu reagieren. Hatte er damit Erfolg?

Laudate Deum (LD) ist eine Reaktion darauf, dass Laudato si‘ zwar einen positiven Einfluss auf die Pariser Klimakonferenz im Jahr 2025 hatte, dass die politischen Maßnahmen aber viel zu ambitionslos sind, um das in Paris gesetzte 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Tatsächlich droht sogar das 2-Grad-Ziel verfehlt zu werden. Zudem hat sich die Stimmungslage gewandelt. Nicht mehr die Bewegung „Fridays for Future“ bestimmt die Schlagzeilen. Es wächst der Widerstand, sobald es nicht mehr nur um die Festlegung von fernen Zielen für die Zukunft, sondern um konkrete Veränderungen geht. Angesichts dessen lässt Papst Franziskus in Laudate Deum seiner Sorge freien Lauf: Mit „der Zeit wird mir klar, dass wir nicht genügend reagieren, während die Welt, die uns umgibt, allmählich zerfällt und auf einen Zusammenbruch zuläuft“ (LD 2), so der Papst zu Beginn des Textes.

Parallel betont er, dass individuelle Lösungen nicht ausreichen. Es brauche politische Entscheidungen auf nationaler und internationaler Ebene (LD 69). Franziskus hoffte, mit diesem Schreiben die Klimakonferenz in Dubai (2023) beeinflussen zu können. In dieser Hinsicht hatte „Laudate Deum“ keinen Erfolg. Sein Appell, die Dringlichkeit der Klimakrise ernst zu nehmen, wurde zwar wahrgenommen, die politische Wirkung blieb aber begrenzt, weil der Widerstand gegen ambitionierte Klimapolitik überwiegt. Die Klimakrise und ihre Auswirkungen waren auch im Bundestagswahlkampf dieses Jahres nur Randthemen. Überschattet von Fragen um Migration und Abschiebungen rückten sozial-ökologische Themen in den Hintergrund. Zudem sind viele Menschen infolge der vielen Krisen und Umbrüche „transformationsmüde“, so die Diagnose des Soziologen Steffen Mau. Bestimmte Medien und populistische Politiker und Politikerinnen nutzen dies schamlos aus.

„Lesen allein reicht nicht. Es braucht auch die Umsetzung“

Mit Laudato si‘ machte Papst Franziskus Umwelt- und Klimaschutz zu einem zentralen Anliegen der katholischen Lehre. Doch haben die etwa 1,4 Milliarden Katholikinnen und Katholiken seine Botschaft wirklich verinnerlicht und handeln im Einklang mit ihr, oder verhallen seine Appelle auch unter den eigenen Gläubigen?

Laudato si‘ ist ein Meilenstein in der Entwicklung der Kirchlichen Sozialverkündigung und vergleichbar mit den Enzykliken Rerum novarum (1891) und Populorum progressio (1967), die mit Arbeiterfrage und der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit jeweils neue Akzente in der Lehrverkündigung setzten. Mit Laudato si‘ (2015) wurde die komplexe Wechselwirkungen von ökologischen und sozialen Herausforderungen zum ersten Mal in einem päpstlichen Lehrschreiben umfassend behandelt. In dieser Hinsicht hat sich die Enzyklika als „normatives“ kirchliches Referenzschreiben etabliert. Jeder Text, jede Arbeitshilfe, jede Rede bezieht sich – so meine Wahrnehmung – auf Laudato si‘, wenn sozial-ökologische Herausforderungen angesprochen werden. Dies gilt für kirchenamtliche Texte, aber auch für Stellungnahmen von Verbänden und Rätegremien, für rechtliche Verordnungen und pastorale Impulse.

Hinter Laudato si‘ kann die katholische Kirche, können die Gläubigen nicht mehr zurück. Die Enzyklika hat unmissverständlich klargemacht, dass der achtsame Umgang mit der Schöpfung eine Form der Diakonie ist: „Den Schrei der Armen und der Schöpfung zu hören“ und darauf mit einer entsprechenden Verantwortungspraxis zu reagieren ist Glaubenspraxis und unausweichliche Aufgabe der Kirche. In Laudato Deum hat hierfür Papst Franziskus diese Worte gefunden: „Die jüdisch-christliche Weltanschauung besteht auf dem besonderen und zentralen Wert des Menschen inmitten des wunderbaren Konzerts aller Lebewesen, aber heute sind wir gezwungen zu erkennen, dass man nur von einem ‚situierten Anthropozentrismus‘ sprechen kann. Das heißt, wir müssen anerkennen, dass das menschliche Leben ohne andere Lebewesen nicht verstanden und nicht aufrechterhalten werden kann“ (LD 67). Diese Einstellung sickert immer mehr in das Bewusstsein von Katholikinnen und Katholiken ein.

Auf der anderen Seite hinkt das alltägliche und politische Handeln dem Wissen und dem Bewusstsein stark hinterher. Viele Menschen verhalten sich immer noch so, als ob die natürlichen Ressourcen und Ökosysteme unendlich ausbeutbare Materiallager wären. Beinahe prophetisch klingen manche Worte aus Laudato Si‘: „Unerlässlich ist die Kontinuität, denn man kann nicht mit jedem Regierungswechsel die mit dem Klimawandel und dem Umweltschutz verbundene Politik ändern“ (LS 181). Es ist gut, dass die deutschen Bischöfe bei ihrer Frühjahrsvollversammlung einen Studientag zum zehnjährigen Jubiläum von Laudato si‘ eingelegt haben. Es lohnt sich, die Sozial- und Umweltenzyklika des Papstes noch einmal zu lesen. Wobei klar ist: Lesen allein reicht nicht. Es braucht auch die Umsetzung. Heute dringender denn je. Die Solidarität mit den Armen, die der Papst mit seinem Schreiben beweist, verlangt, den Kampf und die Hoffnung nicht aufzugeben.

Die Fragen stellte Geraldo Hoffmann

Anmerkung: Dieses Interview wurde erstmals am 23. März 2025 in Zusammenhang mit dem zehnjährigen Jubiläum der Veröffentlichung von Laudato si' veröffentlicht.