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Auf ein Wort: Gedanken zum Sonntagsevangelium

Heilig oder Die seltsame Freude

Es ist eine seltsame Freude in mir, dass alles so gekommen ist, und so ist es wohl gut. Sonst könnte in mir keine solche Kraft und Freude und Sicherheit sein.“ Das schreibt Etty Hillesum, eine junge, jüdische Frau aus Holland 1943 in ihr Tagebuch, bevor sie nach Auschwitz verschleppt wird. Sie hatte bei ihrem schrecklichen Schicksal zu einem tiefen Glauben gefunden. Genau um diese seltsame Freude geht es. Es ist ein anderes Wort für „selig“, das Wort aus dem heutigen Evangelium, das auch mit „O das Glück“ übersetzt wird.
Im Grunde ist es das zentrale Thema, wenn wir von den Heiligen reden und sie verstehen wollen. Sie werden uns gewöhnlich als Figuren dargestellt, die übermenschliche Taten vollbracht haben. Von heroischen Tugenden ist bei einer Heiligsprechung die Rede, sei es nur, dass die Person ihre Krankheit oder ein anderes schweres Schicksal in bewundernswerter Geduld, in stiller, ausstrahlender Freude ertragen hat, wie Anna Schäffer aus Mindelstetten. Wir bewundern solche großen Gestalten, aber beim Gedanken, selbst Ähnliches zu tun, fühlen wir uns überfordert.

Bei den Heiligen begann es keineswegs mit einer heroischen Selbstüberwindung, einer übermenschlichen Tat. Bei Etty Hillesum sind es ihre Not, ihre Schwäche und ihre Neugier, die sie zu einem Psychotherapeuten führen. Damit beginnt für sie ein Weg zu spiritueller Tiefe, zu Echtheit und menschlicher Größe, mit der sie dem Grauen im Lager begegnet. Es ist also doch etwas von dem, was heroische Tugend genannt wird.

Das Schicksal dieser Frau kann man ebenso wenig nachahmen wie das von Anna Schäffer. Es braucht vielmehr einen Weg, wie man zur eigenen „seltsamen Freude“ findet, zu der Kraft, mit der wir unser Leben, wie schwer und verschlungen es sein mag, ähnlich wie diese beiden, meistern.

Den entscheidenden Schritt tut Etty Hillesum, als sie sich mit Neugier und Wahrheitsliebe ihrer inneren Seite zuwendet, die von Unsicherheit, Schwäche und Leidenschaft geprägt ist. Das ist die große Wende in ihrem Leben. So ist es auch beim heiligen Franziskus, als er auf die Stimme der Träume hört und vom schon begonnenen Kriegszug heimkehrt. Sein neues Leben beginnt nicht in San Damiano, sondern schon vorher, als er sein Inneres ernst nimmt.

In diesen Tagen gehen wir an die Gräber unserer Angehörigen und werden nachdenklich. Wir wenden unseren Blick nach innen. Uns wird bewusst: Keiner von uns wird ihrem Schicksal entrinnen. Die Frage darf uns beschäftigen: Wofür habe ich gelebt? Außer ein paar schönen Ereignissen war das meiste Anstrengung, Arbeit und viel Enttäuschung. Noch wichtiger ist die Frage: Wie bin ich dabei geworden? Heilig gewiss nicht! Aber vielleicht doch zufrieden, gelassen, vertrauenswürdig, großzügig und verständnisvoll. Ein Mensch, der auf ein erfülltes Leben zurückblickt, der eine Atmosphäre verbreitet, in der man sich zu Hause fühlt, einer, der sogar etwas von der seltsamen Freude einer Etty Hillesum und des heiligen Franziskus in sich trägt.

P. Guido Kreppold OFMCap, Kirchenzeitung vom 1. November 2015

Lesungen zu Allerheiligen am 1. November 2015