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Auf ein Wort: Gedanken zum Sonntagsevangelium

Gottes Wort „bringt aus der Fassung“

Betroffenheit“ und „Erschrecken“ sind die beiden Reaktionen der Menschen in der Synagoge in Kafarnaum auf die wirkmächtige Lehre Jesu, die uns im Evangelium des 4. Sonntags im Jahreskreis, beschrieben werden. Im jüdischen Synagogengottesdienst durfte sich nach der Verlesung des heiligen Textes jeder erwachsene Israelit bei der Schriftauslegung zu Wort melden. So konnte auch Jesus am Sabbat in der Synagoge lehren. Bei ihm aber spürten die Zuhörer sofort den Unterschied zwischen seiner Verkündigung und der üblichen Auslegung der Schriftgelehrten.

Es muss wohl die große Natürlichkeit seiner Rede gewesen sein, die keine Gebundenheit an irgendetwas Gelerntes, an irgendein überliefertes Schema offenbarte, die die Zuhörer in ihren Bann zog, die selbstverständliche, eigenständige Autorität, mit der Jesus auftrat.

Seine Worte sind nicht einfach frommes Gerede, „religiöser Zuckerguss“ über jedwede Lebenssituation. Sie gehen tiefer, stellen in Frage, erschüttern Mark und Bein, wenn man sie an sich heranlässt, wenn man sich auf sie einlässt. Sie scheuchen selbst jene dunklen, zerstörerischen Mächte auf, vor denen kein menschliches Leben sicher ist, und die wir vielleicht auch selbst manchmal in unserem Leben spüren – ohne uns erklären zu können, woher sie kommen – und aus deren Bann wir uns nicht von selbst zu befreien vermögen. Wie viel Unheilvolles und Böses gibt es in unserer Welt? Wie viele Süchte rauben Menschen ihre Freiheit? Von welchem (Un-)Geist lassen auch wir manchmal unser Denken, Reden und Tun bestimmen und leiten?

Jesu Werk beginnt gerade dort, wo das Böse, das Übel am tiefsten sitzt. Gottes Wort beruhigt nicht einfach nur. Ganz im Gegenteil: Es macht „betroffen“, es kann „entsetzen“ und „aus der Fassung bringen“, wie man das griechische Wort aus Vers 22 auch übersetzen könnte.

Jesus lehrt nicht „anderes“, aber „anders als die Schriftgelehrten“, schreibt Hans Urs von Balthasar zu dieser Schriftstelle: „Die Schriftgelehrten erklären das schriftlich aufgezeichnete Wort Gottes, dessen formulierter Buchstabe für sie heilig ist. Das ganz Neue, das jetzt ertönt, liegt darin, dass Gottes lebendiges Wort sich vor den Lauschenden eben jetzt aktuell in die menschlichen Laute und Buchstaben inkarniert. Es geht nicht um Schrift, sondern um das Urereignis, das sich einst – nachträglich – in Schrift niedergeschlagen hat und jetzt in dieser so leicht zu schlafen scheint, dass es plötzlich zum Ereignis erwachen kann.“

Die Väter des Zweiten Vatikanischen Konzils haben in ihrer Konstitution über die Liturgie in Erinnerung gerufen, dass Christus gegenwärtig ist „in seinem Wort, da er selbst spricht, wenn die heiligen Schriften in der Kirche gelesen werden“. Gerade in der Liturgie möchte Christus also auch uns ansprechen im Hier und Heute. Mit seinem Wort möchte er auch uns nicht nur beruhigen, sondern wirklich betroffen machen, aus so mancher selbstgemachten Fassung bringen, um uns je neu dazu herauszufordern, mitten in der Welt mit ihren Freuden und Leiden, mit ihrer Arbeit und Mühsal, mit ihren Höhen und Tiefen mehr und mehr ein ungeteiltes Leben für Gott und nach seinem Gebot zu führen, das heißt ihn, Gott, über alles zu lieben und von ihm her den Nächsten, wie sich selbst.

Michael Wohner, Kirchenzeitung vom 1. Februar 2015

Lesungen zum 4. Sonntag im Jahreskreis am 1. Feburar 2015