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Auf ein Wort: Gedanken zum Sonntagsevangelium

Die stärkere Anziehung

Das Geheimnis eines erfolgreichen Redners liegt darin, dass er in den Zuhörern etwas in Bewegung setzt. Als immer mehr Menschen zu Jesus kommen, ist etwas von dieser Wirkung eingetreten. Wie er spricht, tut ihnen gut. Das suchen Menschen auch heute. In seiner Nähe fühlen sie sich verstanden und angenommen, frei, sicher, ihrer Einsamkeit und ihren bedrückenden Lasten enthoben. „Es ist gut, dass wir hier sind“ sagt Petrus auf dem Berg. Da ist eine Atmosphäre, die man nicht mehr vergessen kann und für die sich der volle Einsatz lohnt.

Sie begreifen eines: Im Sinne Jesu wird das Leben reicher, erfüllter, selbst wenn es hart ist. Man braucht sich nicht mehr ohnmächtig zu fühlen. Da ist eine Kraft, die stärker ist als alle Mächte, welche einen ängstigen und mürbe machen. Es tut sich ein Erfahrungsfeld auf, das man bisher nicht kannte.

Fast erschrecken muss es uns, wie die Angehörigen Jesu auf dieses Geschehen reagieren. Sie halten ihn für verrückt. Jesus hatte zu diesem Zeitpunkt einen Weg hinter sich, den seine Angehörigen nicht mit vollziehen konnten. Für ihn hatte sich der „Himmel aufgetan“. Es war ein Erlebnis, das ihn seiner bisherigen Umgebung entriss. Der Rahmen seiner Familie und religiösen Tradition war ihm zu eng geworden. Gemeint ist die Art, wie man denkt, was man tut, was man für heilig und verehrenswert hält, wie man miteinander umgeht, wie man über Gott und seine Gebote spricht. Jesus ist nicht mehr einzuordnen. Er passt nicht mehr in die Vorstellung, die die Familie von ihm hat.

Hier wird eine Tragik offenbar, in die fast jeder auf der Suche nach seinem eigenen Lebensweg hineingezogen wird. Die Familie, aus der wir stammen und die unsere erste Heimat ist, gibt uns auch ihre belastende Geschichte mit und kann sogar zum Hindernis für das Gelingen ernsthaften Suchens werden. Es gibt kaum jemand, der so perfekte Eltern hatte, als dass er nicht auch an deren Schwächen leiden würde. Die Prägungen unserer Kindheit enthalten nicht nur Gutes. Wir erben nicht nur das Guthaben der Eltern, sondern auch die Schulden. Das Tragische ist, dass Eltern falsche Grundhaltungen wie emotionale Kälte und Härte, Mangel an Nähe und Zuwendung an ihre Kinder weitergeben, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen. Aus diesem Teufelskreis kann sich niemand  selbst befreien.

Das heutige Evangelium will uns sagen: Der Glaube an Jesus vermag es; er ist der Stärkere, ist gegen alle Mächte, die unser Leben einengen, eintrüben und uns immer wieder in die alten Gleise zurückstoßen. In der Zeit Jesu hat man sie Dämonen genannt; es sind unsichtbare geistige Kräfte, die von Menschen Besitz ergreifen. Die Namen haben sich geändert, aber die Fakten sind geblieben.

Wer den Anschluss gefunden hat an das größere Ganze, das mit dem Namen Jesu verbunden ist, darf darauf hoffen, allen Teufelskreisen seines Lebens entrissen zu werden. Wenn wir den Punkt in uns finden, wo wir uns ganz in der Nähe Gottes spüren, kommen wir auch denen nahe, die mit uns auf dem Weg sind, so nahe wie Eltern ihren Kindern. So ist es, als Jesus jene, die ihn verstehen, seine Mutter, seine Brüder und  Schwestern nennt.

P. Guido Kreppold OFMCap, Kirchenzeitung vom 7. Juni 2015

Lesungen zum 10. Sonntag im Jahreskreis am 7. Juni 2015