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Auf ein Wort: Gedanken zum Sonntagsevangelium

Die Melodie des Sonnengesangs

Die Szene mit dem jungen Mann, der den entscheidenden Hinweis Jesu ablehnt, macht auch uns ratlos. Alles von heute auf morgen aufzugeben für einen Gegenwert, der nicht greifbar ist, soweit reicht der Glaube der meisten nicht. Und doch gibt es in der Geschichte ähnliche Szenen, die anders ausgehen.

Ganz nahe ist uns in diesen Tagen der heilige Franziskus, dessen Fest wir vor einer Woche feierten. Er ist der junge Mann, der das Wort Jesu ernst nimmt und den verheißenen Schatz erhält. Dieser schwebt aber nicht, wie man meinen könnte, in den Lüften, auch nicht in ferner Zukunft, sondern ist etwas unerhört Großes und Kostbares in ihm selbst, ähnlich wie bei Jesus. Er ist da im Hier und Jetzt.

Am überzeugendsten kommt er im Sonnengesang des Heiligen zum Ausdruck. Am Anfang steht die Freude, die Dankbarkeit, die Ehrfurcht vor der Güte und Größe Gottes. Es ist die Grundstimmung, die alle weiteren Strophen prägt. Ohne sie sind die anderen Aussagen nicht zu verstehen. Dahinter steht ein Leben, das bis zum Rand gefüllt ist, eine Dichte der Existenz, bei der alle anderen begehrenswerten Ziele wie Reichtum, Ansehen, äußerer Erfolg, zu Bagatellen werden, sogar verschwinden. Der Verfasser ist an einem Punkt, wo er Gott, der Schöpfung und den Menschen zugleich nahe ist. Ihn ekelt nicht mehr vor den Aussätzigen. Er hat die Angst vor der Obrigkeit, vor dem Sultan und selbst vor dem Tod verloren. Ihm sind Sterne, Wasser, Feuer und Luft, eine Blumenwiese, ein Fels, der ihm Schutz gibt, oder die wachsenden Saaten, wie eigene Geschwister vertraut. Er lässt sich von ihrer Schönheit, von ihrem Licht, von ihrer Sanftheit und Strenge, von ihrer Reinheit, Wildheit und von ihrem Reichtum und ihrer Großzügigkeit anstecken. Er fühlt sich in allem daheim. Er ist in der Mitte der Welt und gerade dadurch Gott nahe.

Vom Glanz des Heiligen berührt zu sein, würde bedeuten, dass etwas davon in uns lebendig wird: unser Inneres würde sich ändern, unsere Freude am Dasein, die Motive, aus denen wir handeln, die Art, wie wir die Ereignisse wahrnehmen und bewerten, unser Umgang miteinander wäre achtsamer und gütiger, unsere Begegnungen würden zu Kostbarkeiten. Unsere Freude würde bei allen Enttäuschungen und Schicksalsschlägen nicht gebrochen sein. Wir würden weiterhin Heiterkeit, Gelassenheit und Zuversicht ausstrahlen. Aber wie kommen wir da hin? Beim Heiligen beginnt es mit einem beeindruckenden Traum und durch eine Erfahrung, in welcher er von Gott berührt wird. Es geschieht eine Umkehr von außen nach innen. Statt ehrgeizige Pläne zu verfolgen versucht er, durch Gebet in der Stille und durch vollen Verzicht die einmal gespürte „Süße“ immer wieder wachzurufen.
Für uns kann das heißen: Am Anfang steht nicht ein heroischer Entschluss, vielmehr die Wende zu dem, wer wir im Innersten sind. Dies ist kein psychologischer Mechanismus, sondern Gottes Funke, sogar Gottes Sohn. Zu ihm führen uns Stille und Gebet, ebenso wie beim Heiligen unsere Träume. Wer sie beachtet, sogar aufschreibt und bearbeiteten lässt, vertraut sich einer realen Wandlung an.

P. Guido Kreppold OFMCap, Kirchenzeitung vom 11. Oktober 2015

Lesungen zum 28. Sonntag im Jahreskreis am 11.Oktober 2015