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Auf Augenhöhe mit Gott


Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Ein Freund bleibt immer Freund, auch wenn die ganze Welt zusammenfällt. (...) Ein Freund, ein guter Freund, das ist der größte Schatz, den’s gibt“ – , so heißt es in einem bekannten Lied von Werner Richard Heymann und Robert Gilbert.

„Gute Freunde“ und „enge Beziehungen zu anderen Menschen“ rangieren in Umfragen zu besonders wichtigen und erstrebenswerten Lebensaspekten regelmäßig an oberster Stelle, sogar noch vor „Familie“ und „glückliche Partnerschaft“.  Und sogar schon das Alte Testament weiß: „Ein treuer Freund ist wie ein festes Zelt; / wer einen solchen findet, hat einen Schatz gefunden. Für einen treuen Freund gibt es keinen Preis, / nichts wiegt seinen Wert auf“ (Sir 6,14-15).

Vor diesem Hintergrund müssen Jesu Worte aufhorchen lassen: „Ich nenne euch nicht mehr Knechte; denn der Knecht weiß nicht, was sein Herr tut. Vielmehr habe ich euch Freunde genannt; denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe.“ Das ist eine absolute Neuheit in der Religionsgeschichte: Nach der traditionellen Auffassung, die in den Religionen vorherrscht, wissen die Menschen nicht, was die Götter denken; die Götter leben in einer anderen fremden Welt, im Licht, wir Menschen aber im Dunkeln.

Im Kontrast dazu teilt Jesus seinen Zuhörern in zwei Sätzen den Kern des christlichen Glaubens mit: Gott und Mensch begegnen sich auf Augenhöhe. Gott und Mensch begegnen sich in ihm und durch ihn, der Gott und Mensch zugleich ist. In der Menschwerdung hat Gott sich zu erkennen gegeben. Er ist nicht mehr der unbekannte Gott, der zwar gesucht, aber nicht gefunden oder nur aus der Ferne erahnt werden kann. Nein! Gott hat sich sehen lassen im menschlichen Antlitz Christi! Aber gibt es da nicht doch einen Haken? Wie ist der Satz gemeint: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage.“

Jesus redet hier nicht auf „Sandkasten-Niveau“, frei nach dem Motto: „Wenn du dies oder das nicht tust, bin ich nicht mehr dein Freund!“ Was Jesus uns aufträgt, ist sein Gebot: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe!“  Was Jesus von uns „verlangt“ ist nichts anderes, als das, was echte Freundschaft ausmacht, nämlich dass sie auf Gegenseitigkeit beruht, dass sie dem Anderen Gutes will. Freundschaft ist Gemeinschaft des Denkens und Wollens, wie die Alten sagten.

Keinen Haken gibt es also, aber die Gabe der göttlichen Freundschaft wird doch zur Aufgabe, die Zusage zur Anfrage, wie es Papst Benedikt einmal formuliert hat: „Die Freundschaft, die er mir schenkt, kann nur bedeuten, dass auch ich ihn immer mehr zu erkennen versuche, dass ich in der Schrift, in den Sakramenten, in der Begegnung des Betens, in der Gemeinschaft der Heiligen, in den Menschen, die auf mich zukommen und die er mir schickt, immer mehr ihn selber zu erkennen versuche. Freundschaft ist nicht nur Erkennen, sie ist vor allem Gemeinschaft des Wollens. Sie bedeutet, dass mein Wille hineinwächst in das Ja zu dem Seinigen. Denn sein Wille ist für mich kein äußerer, fremder Wille, dem ich mich mehr oder weniger willig beuge oder auch nicht beuge. Nein, in der Freundschaft wächst mein Wille mit dem Seinigen zusammen, wird sein Wille der Meinige, und gerade so werde ich wahrhaft ich selber.“                           

Michael Wohner, Kirchenzeitung vom 10. Mai 2015

Lesungen zum 6. Sonntag der Osterzeit am 10. Mai 2015