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Im Wortlaut

Gottes Menschwerdung – unsere Befreiung zum wahren Menschsein

Predigt von Bischof Gregor Maria Hanke OSB am Weihnachtstag 2008 im Eichstätter Dom

Perfektionierung und Ökonomisierung des Individuums

„Welches Bild gebe ich ab?“ „Wie wirke ich auf andere?“
Diese Fragen scheinen heute für das Selbstverständnis vieler Menschen von Bedeutung zu sein. Steckt doch in jedem Menschen das Verlangen, beim anderen anzukommen, ein gutes Bild abzugeben und Erfolg zu haben. Doch nicht genug damit, heute erleben wir darüber hinaus die Ökonomisierung des Individuums. Das Selbst wird als Unternehmen definiert, denn unsere Lebensbezüge sind zum Marktplatz geworden. Das Individuum muss sich folglich permanent präsentieren und findet sich in der Zwangssituation, beständig an der Selbstoptimierung zu arbeiten. Der gesellschaftliche Leitwert heißt „Perfektionierung“, nicht nur für das berufliche Leben und die Karriere, sondern ebenso im privaten Bereich, in Wellness, Freizeit und Sport.

„Welches Bild gebe ich ab?“ - Die Macht der Bilder, der Medien und das Diktat der Werbung mit den Marken, d.h. mit dem Kauf von Image und Erscheinungsbild, bestimmen bereits unser äußeres Auftreten: sportlich und jugendlich auszusehen, modisch stets auf dem neuesten Stand gekleidet zu sein. Und deshalb immer in Bewegung, immer neu und immer besser.

Im Berufsleben wird aus dem Leitwert „Perfektionierung“ oft bitterer Ernst.
Da heißt es, Stärke zu zeigen, persönliche Erfolge gegen den Mitmenschen als Mitbewerber oder Konkurrenten zu vermarkten, da dürfen Schwächen nicht zugegeben werden. Scheitern kann man sich schon gar nicht leisten. Keineswegs geht es beim Leitwert „Perfektionierung“ um die Entwicklung des Menschseins auf einen Idealzustand hin. Die Ökonomisierung des Individuums in einer Welt, die sich als Marktplatz versteht, verlangt, dass man sich ständig verändert und in Bewegung bleibt, um sich von anderen zu unterscheiden und sich ihnen gegenüber behaupten zu können. Besser werden meint hier: immer anders sein als die anderen, ihnen etwas vorauszuhaben!

In einer Welt, die scheinbar keine Grenzen hat, hat man sich ständig die Exzellenz der Flexibilität und Veränderung zu beweisen. Medizinsoziologen haben dabei festgestellt, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem gesellschaftlichen Leitwert fortwährender Perfektion und der Zunahme an Angstzuständen und Panikattacken. Das führt zum „getriebenen Ich“, dessen innerer Kern oft das „erschöpfte Selbst“ ist.(1) Angst als Kehrseite der verordneten Flexibilität?

Unmenschliche Erfahrungen wie diese, aber auch die aus dem beruflichen Veränderungsdruck resultierende Zeitnot haben für viele, die in unserer Gesellschaft Verantwortung tragen, eine Suchbewegung nach Hilfe in Gang gesetzt. Man hält selbst Ausschau nach einem Coach oder erhält ihn von der Firma gestellt. Auch im Privatbereich des Lebens geht es vielfach nicht mehr ohne Coach.

Die Zahl derer, die coachen, soll in den letzten fünf Jahren um das 20fache auf 40.000 gestiegen sein.(2) Diese Helfer sollen dazu beitragen, dass der oder die Betreffende wieder den Anforderungen gerecht wird und dabei das entsprechende Erscheinungsbild abgibt.

Die Entlastung des Menschen durch Gottes Menschwerdung

Gegenüber dem harten Imperativ fortwährender Selbstoptimierung bildet Weihnachten einen Kontrast! Dem gejagten Selbst, das sich permanent fragen muss: „Wie komme ich noch besser an?“, verkündet die Weihnachtsbotschaft Befreiung und Entlastung. Der Mensch muss sich nicht ständig selbst neu erschaffen wollen nach den gerade gängigen Leitwerten der Gesellschaft. Das Fest der Menschwerdung Gottes sagt uns: Gott ist als der wahre Mensch angekommen beim Menschen. Willst Du, Mensch, Anteil haben am wahren Menschsein, dann verbinde dich mit Gott. Der Menschgewordene führt Dich den Weg der Menschwerdung.

Der Kolosserbrief bezeichnet Christus als Ebenbild Gottes: „Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes.“ (Kol 1,15) Von Christus wird jene Abbildhaftigkeit Gottes im Vollsinn ausgesagt, die der Schöpfungsbericht einem jeden Menschen mit den Worten zuschreibt: „Gott schuf den Menschen als sein Abbild.“ (Gen 1,27) So offenbart uns Christus an seiner Person das wahre Menschsein, das, was der Mensch in den Augen Gottes ist. Christologie ist vollendete Anthropologie, sagt man in der Theologie. Weihnachten, die Krippe mit dem Kommen Gottes im Fleische, ist nicht irgendeine romantische und fromme Zutat, sondern es ist der Beginn der vollen Offenbarung des Menschen von Gott her.

So will uns die Botschaft vom Kommen Gottes als kleines Kind auf den Weg unserer eigenen Menschwerdung bringen und zwar in dem Sinne, wie Gott den Menschen möchte. Gottes Sohn, der Mensch wurde wie Du und ich, lädt uns ein, mein und dein Menschsein seinem ähnlicher werden zu lassen. Wenn wir aus der Gottesbeziehung leben, dann ereignet sich in unserem eigenen Leben das Wunder der Menschwerdung.

Liebe als Wesen der Menschwerdung

Menschwerdung im irdischen wie göttlichen Sinne erwächst aber allein aus der Liebe. Die Beziehung mit dem Mensch gewordenen Gottessohn schenkt uns die Erfahrung, ein von Gott geliebtes Wesen, Empfangender zu sein. Gottes Liebe will den Menschen anrühren und ihn liebesfähiger machen. Die Antwort seiner Liebe soll der Mensch in Freiheit geben. Je tiefer die Beziehung mit Christus ist, desto weiter öffnet sich die Tür zu meiner Menschwerdung!

Und doch ist davon in unserem Alltag als Christen so wenig zu spüren. Stattdessen erfährt sich der Mensch selbst als Rätsel, und wie oft sind Menschen sich gegenseitig ein Rätsel im Miteinander in Ehe und Familie oder im Freundeskreis.

„Seht, da ist der Mensch!“ (Joh 19,5)  Das sind die Worte, die der Statthalter Pontius Pilatus über Jesus ausrief. Pilatus wollte damit seine Ruhe vor dem schreienden Mob erlangen und wurde zum Rechtsbeuger, da er Jesus den Prozess machte. Aber wie prophetisch ist dennoch dieses Wort: Ecce homo! Da, seht den Menschen.

Ja, seht ihn, d. h. schaut auf ihn, den Menschen schlechthin, der uns seit Betlehem sichtbar begegnet. Nicht umsonst hat durch die Jahrhunderte hindurch das Schauen des Bildes Christi eine große Rolle gespielt. Das Bild Christi faszinierte die Christen zu allen Zeiten. Künstler wie Leonardo da Vinci, Michelangelo oder Albrecht Dürer hinterließen uns große Zeugnisse ihres Verständnisses davon.

Die Verehrung des heiligen Antlitzes Christi, ob auf Ikonen, auf dem Turiner Grabtuch oder auf dem Tuch aus Muschelseide in Manopello spielt bis in unsere Tage eine große Rolle. Gewiss stecken nicht nur menschliche Neugierde nach dem irdischen Aussehen Christi oder Phantasie bzw. fromme Verehrung alter Überlieferungen dahinter.

Vielmehr bahnt sich in der Frömmigkeitsform das Verlangen nach dem wahren Menschen in Christus einen Weg. In der Verehrung des Bildes fokussiert sich die Sehnsucht nach einem, der uns zeigt, wie Menschsein geht.

Verständlich ist dies, ruft doch schon der alttestamentliche Beter in Psalm 27 zu Gott: „Faciem tuam requiram – Dein Angesicht will ich suchen.“ Und in Psalm 42: „Wann darf ich kommen und dein Antlitz schauen?“

Der Blick auf den Mensch gewordenen Herrn offenbart uns das Wesen des Menschen, das Bild Gottes, das Liebe ist. Es entlastet vom Diktat innerweltlicher Leitwerte. Daher dürfen wir in diesen Tagen vor der Krippe im Geist der hl. Theresia v. Lisieux sprechen: „Dein Antlitz, dein Bild ist unsere Heimat!“

Amen.

 

 

(1) So der französische Soziologe Alain Ehrenberg. Cf. Christian Schüle, „Das gecoachte Ich,“ in: Die Zeit vom 21. August 08 (Nr. 35) p. 16.
(2) Die Zeit vom 21. August 08 (Nr. 35) p. 16.