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Im Wortlaut

Berufen in die Hirtensorge Christi: Predigt von Bischof Gregor Maria Hanke OSB bei der Priesterweihe, am 28. April 2012, im Eichstätter Dom

Elektra, eine schöne, aber höchst gefährliche Frau ist besessen, die Weltherrschaft an sich zu ziehen. Sie will James Bond zum Teil ihres Weltbeherrschungsplanes machen. Der verweigert sich dem Plan, er will loyal zu seinem Heimatland bleiben, dem er mit Leidenschaft dient. Aus Rache wird Bond gekidnappt. Er soll getötet werden. „Ich hätte dir die Welt schenken können“, sagt Elektra dem gefesselten Helden. Und der antwortet darauf verächtlich: „Die Welt ist nicht genug!“

Eine Antwort, die zu schade ist, um zum Drehbuch eines Action-Films zu gehören. Eine Aussage, die uns Getauften gut anstünde, mit der wir auf viele fundamentale Anfragen unserer Zeit gegenüber dem Glauben eine Erklärung eröffnen könnten. Die Welt ist uns Christen nicht genug.

Liebe Weihekandidaten, liebe Schwestern und Brüder! Warum machst du als gläubiger Christ in dieser Welt nicht alles mit, was der Markt der Möglichkeiten dir bietet? Warum bekennst du dich zum Glauben an Christus und den dazugehörigen Werten? Warum hältst du dich an Gebote?

Die Welt ist nicht genug!

Warum treten heute sechs Männer an den Weihealtar, um sich durch den Empfang des Sakramentes der Priesterweihe von Christus, dem Hohenpriester und Hirten, in Dienst nehmen zu lassen? Warum nutzen Clemens, Christof, Adriano, Dominik, Wolfgang und Sebastian nicht ihre Chancen in der Welt aus? Sie könnten sicher irgendeine Karriere machen, das Leben genießen, eine nette Frau und Familie haben! Warum führen sie stattdessen als Priester ein zölibatäres Leben in Gehorsam?

Die Welt ist nicht genug!

Viele unserer Mitmenschen können sich nicht vorstellen, dass es über die Möglichkeiten dieser Welt hinaus etwas und vor allem jemanden gibt, wodurch ein Mensch tiefes Glück erfahren kann.

Das Bild vom guten Hirten als geistliche Provokation

Wir haben das Evangelium vom guten Hirten gehört (Joh 10, 11-18): „Ich bin der gute Hirt.“ – Der Herr bekennt von sich, der gute Hirt zu sein, nicht bloß irgendein guter Hirt. Wer also zu seiner Herde gehört, dem soll es gut ergehen. Nicht materiell, sondern das Leben erhält eine neue Qualität. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe, eben damit sie ein neues Leben haben, sein Leben.
Das Evangelium vom guten Hirten ist eine österliche Botschaft. Ihre Tragweite erschließt sich erst, wenn man sie durch Kreuz und Auferstehung Jesu hindurch liest und hört.

Das Bild vom Hirten und den Schafen hat einen romantischen Anklang und rührt bis heute naturverbundene Menschen an.
Unsere Jura-Landschaft um Eichstätt ist eine Gegend, in der die Schafhaltung traditionell eine Rolle spielt. Der im Altmühltal seit einiger Zeit praktizierte Brauch des öffentlichen Schafauftriebs erinnert daran. Er gilt als Attraktion und zieht auch in unserer Hightech-Zeit viele Zuschauer an.

Andererseits verursacht das Bild vom guten Hirten und den Schafen aus dem Evangelium im aufgeklärten Menschen, im modernen Gläubigen, Befremden. Zwischen einem Hirten und seinen Schafen besteht keine Gleichwertigkeit, kein Verhältnis der Ebenbürtigkeit, vielmehr ein krasser Unterschied, ein gewaltiges Gefälle. Wer möchte heute im Zeitalter der Gleichheit und Gleichberechtigung Schaf sein? Schon damals löste Jesus mit seinen Worten keine Begeisterung aus. Im Anschluss an die Bildrede vom guten Hirten überliefert der Evangelist Johannes den Hinweis, dass es unter den Juden zu einer Spaltung kam, die mit dem Vorwurf des Wahns (Joh 10, 20) gegen Jesus verbunden war.

Tatsächlich will der Herr mit dem Bild vom guten Hirten und seiner Herde keine Idylle vom Weg der Nachfolge in dieser Welt zeichnen. Ebenso wenig beabsichtigt er, seine Jünger, die ihm folgen, als unmündige Schafe darzustellen. Setzt doch die Nachfolge Jesu die freie Entscheidung voraus. Die Bildrede vom guten Hirten will wohl eher wachrütteln, vielleicht sogar provozieren. Wir sollen erkennen, wer und was wir, seine Jünger, tatsächlich sind in Bezug auf ihn.
Wie zwischen Hirt und Schaf eine enorme Differenz besteht, so zwischen Christus und uns, seinen Jüngern. Wir stehen zunächst nicht auf Augenhöhe mit dem guten Hirten Christus. Der Hirte verfügt über ein Sein und eine Fülle an Leben, die unvergleichbar sind mit der Wirklichkeit der Schafe.

Die Differenz des Hirten zu den Schafen – Wirkkraft für die Sammlung der Herde

Nicht die Herde bewirkt, dass der Hirte Hirt sein kann. Es ist in erster Linie die Kraft Gottes im guten Hirten, die Wirkprinzip der Herde ist. Die Fülle Gottes, die in Christus, dem Herrn, wohnt, fließt von ihm auf uns aus und führt die Einzelnen zur Herde zusammen.

Herdesein, Jüngergemeinschaft, Kirche erwächst aus dieser Lebensfülle, aus diesem Mehr, das den Hirten von seiner Herde unterscheidet.

Liebe Weihekandidaten, das, was uns so sehr von ihm, dem guten Hirten, unterscheidet, besitzt zugleich die Kraft, uns mit ihm zu vereinen. Als Priester nehmt Ihr am Hirtendienst Christi teil, nämlich die Herde Gottes, das Volk Gottes zu sammeln und zu weiden. Ihr sollt dieser Hirtensorge Christi Hand, Stimme und das Herz leihen. Also müsst Ihr Euch ganz auf diese Lebensfülle Christi, auf dieses Übermaß der Kraft Gottes in ihm orientieren. Zwar erfleht Ihr amtlich vor allem in der Feier der Liturgie und in der Spendung der Sakramente diese Lebensfülle des Herrn, aber Ihr seid auch gerufen, Euch ganz persönlich von der Kraft Gottes in Christus ergreifen zu lassen und durch Euer Leben für sie Zeugnis abzulegen.

Erkenne diese göttliche Fülle in Christus nicht mehr an, reduziere Christus auf einen geistlichen Meister, auf einen besonders begnadeten außerordentlichen Menschen, und die Kraft, die Herde zu sammeln, erlahmt. Wo wir in der Kirche die Differenz zwischen dem Schaf und dem gutem Hirten leichtfertig nivellieren, nehmen die Differenzen im Miteinander zu, setzt der Kampf um die Macht ein, breitet sich eine Wolfsmentalität aus.

Die Anerkennung der Größe und Macht des guten Hirten und unserer Abhängigkeit von ihm wird uns gerade in dieser aufgewühlten kirchlichen Lage vor Missverständnissen und Fehlinterpretationen des Bildes der Kirche als Volk Gottes bewahren. Das Volk Gottes ist keine autonome Größe. Volk Gottes ist eine Bezugsgröße auf Christus und seinen Stifterwillen hin: Herde Christi. Ohne lebendige Beziehung zu ihm, dem guten Hirten seines Volkes, bliebe das Volk seelenlose Masse.

Liebe Weihekandidaten! Von dieser Differenz Christi zu uns, das heißt von dieser Fülle der Kraft Gottes in Christus, müsst Ihr Euch immer wieder ganz persönlich ergreifen lassen, um am Hirtendienst Christi teilnehmen zu können, um das Geschenk seiner Nähe und Liebe zu uns ermessen zu können.

Bedenkt: Es ist die Kraft Gottes in Christus Jesus, die Neuheit seines Lebens, welche die Einzelnen zur Herde Christi zu sammeln vermag. Nicht aus eigenem Vermögen und nicht durch Euere persönliche Kompetenz und nicht durch Euer Geschick werdet Ihr den Dienst der Sammlung gut ausüben. Die Welt ist nicht genug! Gerade der Priester muss aus der Fülle schöpfen, die in Christus wohnt.

Die Umkehrung der Hirtenregel durch Christi Hingabe

Liebe Weihekandidaten! Ihr werdet in der Kraft Christi zum priesterlichen Hirtendienst bestellt. Der Hirte in der Natur draußen pflegt seine Herde, jedoch um von ihr Gewinn für den eigenen Lebensunterhalt zu nehmen. Ganz anders verhält sich der gute Hirte Jesus Christus zur Herde. Er kehrt das Prinzip um. Die Schafe sollen Gewinn nehmen vom Hirten. Der gute Hirte dient sich im tiefsten Sinn des Wortes seinen Schafen an und teilt aus seiner Fülle mit. Im Kreuz baut er die Brücke, um den Abstand zu uns, seiner Herde, aufzuheben, den seine unermessliche göttliche Lebensfülle und Macht bedeuten. Das Kreuz wird zu seinem eigentlichen Hirtenstab.

Im Kreuz wandelt sich die Macht des guten Hirten in Hingabe, in Liebe. Die offene Seite des Gekreuzigten, aus der Blut und Wasser strömen, wird zur Quelle des Lebens. Durch die Kreuzeshingabe macht sich der gute Hirte selbst zum Lamm, zum Paschalamm, das geopfert wird für uns.

Nun kann ich, das Schaf in der Herde des durchbohrten Hirten, das Leben des Lammes empfangen, das als Paschalamm hingegeben wurde.
Neues Leben breitet sich im Christusgläubigen aus. Paulus weist mit einem Ausruf im Galaterbrief darauf hin: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2, 20)

Liebe Mitbrüder, die Ihr die heilige Priesterweihe empfangt und am Hirtendienst des guten Hirten teilhaben werdet. Bedenkt, dass er die ‚Hirtenregel’ umgekehrt hat. Die Herde hat vom Hirten Gewinn zu nehmen. Hirtendienst im Namen des obersten Hirten besagt: Wir haben uns den uns Anvertrauten ‚anzudienen’ im wahrsten Sinn des Wortes und nach dem Vorbild des guten Hirten.

Hingabe nach Christi Vorbild kann ich nur leben, wenn ich selbst erfasst bin von der Größe Christi. Die Welt ist nicht genug! Das gilt für alle Getauften, erst recht aber für den Priester als Ausspender der Geheimnisse Christi. Durch unseren priesterlichen Dienst teilen wir aus seiner Lebensfülle aus und befähigen die Herde geistlich.

Als Priester werde ich dann verzagt und mutlos, wenn ich mich, wenn ich vor allem meine Person den Herausforderungen der Pastoral gegenüber sehe. Wenn ich nicht mehr das Bewusstsein in mir trage, dass in Christus, dem guten Hirten, eine Überfülle des Lebens ist, von der auszuteilen ich gerufen bin. Angst vor der großen oder kleinen Welt oder Anpassung an die Welt sind die Folgen. Wir sollten uns in solchen Fällen in Erinnerung rufen: Die Welt ist nicht genug!

Hirtendienst als Sendung in die Liebe

Wie kann ich die Lebensfülle des guten Hirten je neu als Kraftquelle für meinen Hirtendienst erfahren?
Solche Erfahrungen, liebe Weihkandidaten, entstehen, wenn wir immer neu Maß nehmen an der Liebe des menschgewordenen Gottes. Liebe ist ein anderer Name für sein Leben in Fülle. So ist die Berufung zum Hirtendienst eine Sendung in die größere Liebe, wie die letzten Worte des Johannesevangeliums lehren, die uns die Begegnung zwischen dem Auferstandenen und Simon Petrus am See von Tiberias überliefern: „Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich mehr als diese? … Ja Herr, du weißt, dass ich dich liebe!“ Darauf spricht der Herr: „Weide meine Lämmer!“ (Joh. 21, 15)

An einer anderen Stelle des Evangeliums trägt der Herr den Seinen auf: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben!“ (Joh 15, 12) Nicht einfach nur Liebe fordert er, so gut es halt geht. Nein: „Wie ich euch geliebt habe!“ Der Herr lädt uns in die Maßlosigkeit seiner Liebe ein, denn seine Liebe zum Menschen kennt keine Grenzen, sie strömt in Überfülle. Es kann also für uns kein Maximum, kein definiertes Höchstmaß an Liebe geben, das irgendeinmal erreicht sein könnte, bei dem man sagen könnte: Ich habe das Gebot der Liebe erfüllt! Aber die Liebesbereitschaft des Menschen droht im Laufe der Zeit abzunehmen: nach 10, 20 oder 30 Ehejahren, nach 10, 20 oder 30 Priesterjahren. Die Weisung des Herrn stellt uns hingegen die Aufgabe, zur immer größeren Liebe hin unterwegs zu sein.

Versetzt uns das Gebot des Herrn in Zwang? Liebe kann nicht als Zwang aufgefasst und schon gar nicht zwanghaft verwirklicht werden. Liebe kennt kein Müssen. Lieben ist wie Atmen. Atmen ist kein Müssen, sondern ein Verlangen. Nicht zu atmen, kann Sterben bedeuten.
Das liebende Verlangen nach dem Größeren ist Dürfen, ist gelebte Freiheit. Wie wirklich Liebende sich die ganze Welt gegenseitig zu Füßen legen möchten, so will der von der Liebe Gottes Ergriffene alles geben. Unser pastorales Wirken sollte viel an liebender Selbsthingabe spüren lassen.

Wo Liebe nicht mehr glüht, sondern erstarrt und erkaltet ist, reduziert sie sich – oder genauer das, was von ihr noch übrig ist – auf Pflicht und Zwang. Das mag für die kleinen Themen unseres pastoralen Wirkens wie auch für große kirchliche Themen gelten. So sollten wir zunächst über unsere Liebe zu Gott und den Menschen und über unsere Liebesfähigkeit nachdenken, ehe wir das Wort vom sogenannten Zwangszölibat in den Mund nehmen.
Liebe wagt auch den Verzicht um der größeren Liebe willen. Sie kann sogar nach dem verlangen, was in den Augen der Menschen und in der Welt als Mangel erscheint. Aus Liebe und um der größeren Liebe willen versprecht Ihr Gehorsam gegenüber dem Bischof und der Kirche. Um der größeren Liebe willen, nicht aus Unvermögen oder Verachtung der Ehe, wollt Ihr als Priester in eheloser Jungfräulichkeit leben.

Die Welt ist nicht genug – Hirtendienst als Ausblick

Liebe Weihekandidaten! Das Alte Testament überliefert, dass bei der Landnahme des Volkes Israel der Stamm Levi keinen Anteil am Land erhielt. Sie, die zum Dienst im Heiligtum bestellt waren, machten mit dem Fehlen des Landbesitzes auf etwas aufmerksam, was für das ganze Volk Bedeutung hatte: Israel bleibt trotz seines Landbesitzes Fremdling, ist ganz auf Gott verwiesen.

Ihr, liebe Weihekandidaten, nehmt durch Euere liebende Hingabe im priesterlichen Dienst und den damit verbundenen Verzicht im Gehorsamsversprechen sowie durch die zölibatäre Lebensweise einen Dienst der Stellvertretung für die Herde Gottes wahr, für das Volk seiner Weide. Euer Leben und Wirken als Priester verweist auf etwas, was für alle Gültigkeit hat:
Das Volk Gottes hat hier keine bleibende Heimat, es muss als Herde Gottes, geführt vom guten Hirten, unterwegs bleiben zum großen Ziel seiner Berufung. Die Welt ist nicht genug!
Euere liebende Hingabe ermuntere die Herde Christi, sich ergreifen zu lassen von der Wirklichkeit Gottes, von der Überfülle des Lebens in Christus.

Amen