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Im Wortlaut

Predigt von Bischof Gregor Maria Hanke OSB zum Jahressschluss 2011 im Eichstätter Dom

Liebe Schwestern und Brüder!

Am Ende des Jahres 2011 blicken viele Menschen hierzulande und in Europa nicht nur zurück, sondern sie stellen sich bange Fragen: Was wird das neue Jahr bringen? Welche Zukunft hat Europa? Wie geht es mit dem Euro und mit der Wirtschaft weiter? Ist mein Erspartes sicher? Was geschieht mit den Renten?

Die derzeitige Krise des Euroraumes, die zunächst als Schwäche der Finanzwelt und dann als Schuldenkrise einiger europäischer Staaten zutage trat, lässt inzwischen das Epizentrum der Erschütterungen deutlicher erkennen: Wir leben über unsere Verhältnisse in einer ‚schuldenfinanzierten Konsumkultur’  (Tim Jackson, Wohlstand ohne Wachstum, München 2011, 44).

1. Alles für das Wirtschaftswachstum

Die rettenden staatlichen Eingriffe zugunsten des Finanzsektors waren unter den Gegebenheiten zweifellos notwenig, um die Wirtschaft zu stabilisieren und Rezession oder gar den Zusammenbruch von Volkswirtschaften zu verhindern. Doch sind alle bisherigen Maßnahmen dem kaum hinterfragten Axiom geschuldet, auf das Politik und Gesellschaft nach wie vor setzen: Der Fortschritt der Gesellschaft braucht Wachstum der Wirtschaft. Und Wachstum generiert Fortschritt. Die finanz- und wirtschaftspolitischen Stützmaßnahmen der letzten Jahre stellen also das Wachstumsmodell unter Schutz. Sie dienen letztlich der Rettung des Fortschrittsgedankens. Denn materieller Wohlstand bedeutet nach diesem Konzept Fortschritt.

2. Immer mehr produzieren – immer mehr haben wollen – wie lange noch?

Wenn gesellschaftlicher Fortschritt also mit ständig wachsenden materiellen Bedürfnissen gekoppelt ist, ist die Kehrseite des Ganzen wachsender Ressourcenverbrauch.

Wie viel Fortschritt werden wir uns in Zukunft leisten können?

Ein Fünftel der Weltbevölkerung - also die industrialisierten Länder - verdienen fast 75 Prozent des Welteinkommens. Das ärmste Viertel der Weltbevölkerung hingegen verdient nur 2 Prozent des Welteinkommens.

Oder anschaulicher: Über eine Milliarde Menschen weltweit lebt in so großer Armut, dass sie mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen. Das heißt mit einem Betrag, für den man hierzulande nicht einmal eine Tasse Kaffee in einem Restaurant erhält.

Wenn die ärmsten Länder und dazu die Schwellenländer unsere Maßstäbe des Lebensstandards zum Ziel ihres Wirtschaftens machen, wenn sie unser Konzept des gesellschaftlichen Fortschritts realisieren wollen, der aus stetigem Wirtschaftswachstum hervorgeht, wird es eng auf dem Erdball. Die Weltwirtschaft müsste fünfzehn Mal so groß sein wie jetzt, um allen Menschen einen Lebensstandard zu gewähren, der vergleichbar dem unseren ist. Aber bereits jetzt werden Bodenschätze, besonders das Öl, die Anbauflächen für Nahrungs- und Futtermittel und sonstige Ressourcen knapper und irgendwann ausgereizt und erschöpft sein. Wir kommen an Grenzen.

Selbst in unserem Land garantiert das Axiom „immer mehr Wirtschaftswachstum - immer mehr Fortschritt“ den Wohlstandssegen nicht mehr für alle gleichermaßen. Es entstehen ökonomische Asymmetrien. Die soziale Schere in der Gesellschaft weitet sich. So stagnieren beispielsweise seit fast 20 Jahren im statistischen Durchschnitt die Realeinkommen der Mittelschicht, während Reiche immer reicher werden und zugleich die versteckte Armut zunimmt. Das spürt etwa unsere Caritas aber auch private Initiativen wie die Einrichtungen von Tafeln.

3. Krise des materiell ausgerichteten Fortschrittskonzepts

Sind die Erschütterungen desFinanzsektors während der letzten Jahre als Fiberschübe eines angeschlagenen Organismus zu deuten, der Erschöpfungen zeigt? Ausgepowert durch eine Vorstellung des gesellschaftlichen Fortschritts, der primär an Wohlstandsmehrung gekoppelt ist und damit stetig wachsende materielle Bedürfnisse der Menschen generiert. Wachstum der Ökonomie, also Immer-mehr-Produzieren und zugleich immer mehr Haben-wollen und immer mehr Verbrauchen.

Sollten die Erschütterungen der letzten Jahre auf eine tiefer liegende Krise verweisen, wäre die Suche nach den Missetätern, wäre die Suche nach Schurken der jüngsten Vorkommnissen auch kein Ausweg. Kritik an den Banken und an der Habgier mancher Investmentbanker oder an der staatlichen Schuldenpolitik führen dann zu keiner nachhaltigen Lösung, ja nicht einmal der berechtigte Ruf nach mehr Wirtschaftsethik und verbindlicheren Regeln für die Finanzwirtschaft.

Es geht gewiss nicht darum, wirtschaftliches Wachstum generell abzulehnen oder gar zu verteufeln. Schließlich hat es unser Leben in vielerlei Hinsicht verbessert und uns Möglichkeiten eröffnet, von denen unsere Vorfahren nicht einmal träumen konnten.

Aus christlicher Weltverantwortung heraus scheint angesichts der Krise jedoch die Frage angebracht, ob nicht die Vorstellung von Fortschritt eine breitere Basis als technische Verbesserungen und materielle Mehrung bräuchte. Braucht ein qualitätsvolles Leben nicht viel mehr als Technik, als Wohlstand?

Der moderne Fortschrittsgedanke hat die Wirkung einer Triebfeder. Er erweckt fortwährend die Hoffnung, dass die Zukunft, vielleicht das goldenes Zeitalter, immer erst noch vor uns liegt, als stetige Verbesserung der Lebenslage. Vor über 200 Jahren setzte dieses neue Denken zunächst als geistige und gesellschaftliche Bewegung ein. Genoss bis dahin das Überlieferte, die Tradition hohe Wertschätzung, wandte sich damals die allgemeine Aufmerksamkeit dem Neuen und dem Verlangen nach dem Neuen zu. Diese nach vorne in die Zukunft gerichtete Kraft in vielen Menschen erfasste schließlich auch den Umgang des Menschen mit der Welt, mit der Natur, und beflügelte die technischen Wissenschaften und die Wirtschaft.

Die Welt wurde planbar gemacht durch Beherrschung der Natur, durch wachsende Erkenntnisse der Naturwissenschaften, durch empirische Wissenschaft und zunehmende Technokratie und Verwaltung, wie wir dies auch in unseren Tagen erleben. Zweifellos großartige Errungenschaften hat uns der Fortschritt gebracht, Errungenschaften wie wir sie heute nicht mehr missen möchten.

Aus dem empirisch-technischen Fortschrittsgedanken erwuchs aber schließlich die Vorstellung von der Deckungsgleichheit zwischen Fortschritt der Gesellschaft und Zivilisation.

Die Achillesverse des modernen Fortschrittsdenkens liegt in der Verknüpfung von Fortschritt und Glück als Automatismus. (Martin Honecker!)

4. Mensch und Natur am Zerbrechen

Die Maxime: Je mehr wir haben, desto besser geht es uns! berücksichtigt nicht, dass Qualität nicht einfach durch mehr Quantität erzeugt wird. Der Reiz des ständig Neuen und des scheinbar Besseren droht uns sogar in eine Schieflage zu manövrieren.

In eine ökologische Schieflage: Die Erde ist ein endliches System, ein System mit Grenzen. Entsteht aber nicht eine Schieflage, wenn man innerhalb eines endlichen Systems ein Subsystem betreibt und gestaltet, als gäbe es keine Grenzen?

Und dann in eine Schieflage des Menschseins: Gerade wenn einem Leben das Verlangen nach tiefere Sinnerfahrung abgeht, wenn sich der Mensch nicht mehr an Gott orientiert oder Transzendenz nicht anerkennt, kann das menschliche Selbst rasch leer werden. In der Konsumgesellschaft wird dann das entleerte Selbst – von dem die Sozialethiker sprechen – wird dann das entleerte Selbst gedrängt, seine Identität über materielle Güter zu suchen, sich über materielle Güter stetig neu zu erfinden und sich Selbstverwirklichung und scheinbare Hoffnung zu holen. Das entleerte Selbst verlagert sich nach außen, um materielle Güter und Prestige zum Bestandteil des Selbst zu machen. Und der Reiz des Neuen lässt es ständig neu begehren: nach Konsumprodukten, nach mehr Besitz und Ansehen, nach Events, nach Stars und so weiter.

5. Das Wachstum des Glaubens und der Werte

Wenn wir die Erschütterungen der letzten Jahre als Krise im Fortschrittsdenken der Moderne deuten, dann werden wir nicht allein mit Appellen zu mehr Sparen und Haushaltsdisziplin oder zu mehr Wirtschaftsethik die passenden Heilmittel bereitstellen.

Fortschritt und wirtschaftliches Wachstum generell abzulehnen, ist sicher auch nicht der Ausweg. Wir verdanken ja dem Fortschritt sehr viel, was wir nicht mehr missen können und möchten.

Aber benötigen wir vielleicht nicht eine stärkere Ausdifferenzierung zwischen quantitativem und qualitativem Wachstum. Fehlen uns nicht neue Denkmuster, die eine Änderung im Wertesystem, im Lebensstil und in der Struktur des gesellschaftlichen Zusammenlebens bewirken. (Jackson, 113)

„Zum guten Leben gehört auch die Fähigkeit, zu lieben und geliebt zu werden, die Achtung der anderen in der Gruppe zu erfahren, sinnvolle Arbeit beizusteuern und in der Gemeinschaft Zugehörigkeit und Vertrauen zu empfinden.“ (Ebd., 55)  So schrieb vor einiger Zeit ein hoch angesehener Professor der Ökonomie aus Sorge um die Zukunft. Wir benötigen die Kraft des Vertrauens und der Liebe, die aus dem Glauben erwachsen, aus dem Glauben, dass Gott da ist und jeden von uns in die Gemeinschaft mit ihm in seiner Zukunft einlädt.

Der große Europäer Jacques Delors, französischer Sozialist und einst EU-Kommissionspräsident, hat in einem kürzlich gegebenen Interview anlässlich des 10-jährigen Jubiläums der Einführung des Euro im Blick auf die Wurzeln der derzeitigen Krise geäußert: Es brauche mehr Religion! Ohne spirituellen Schwung werde das ganz Projekt Europa nicht weit kommen.

Eine Reihe von geistigen Strömungen und gesellschaftlichen Bewegungen scheinen seismographisch anzuzeigen, dass wir ein Umdenken brauchen. Nicht wenige Menschen in diesen Bewegungen sind bereits unterwegs auf der Suche nach der Gestaltung der Zukunft. Eine große Wochenzeitung unseres Landes befasst sich seit mehreren Ausgaben mit der Frage, ob das Ende des Kapitalismus angebrochen ist und welche Alternativen es geben könnte.

Es braucht mehr Religion, sagt der große Europäer Jacques Delors. Wir Christen sind gefragt! Mischen wir uns ein in diese Suchbewegung. Es wäre schade, wenn wir Katholiken in unserem Lande den Beitrag zu den brennenden Fragen der Gegenwart schuldig blieben, weil wir uns zu sehr um uns selbst drehen und uns mit kircheninternen Strukturen und vielen Selbstzweifeln beschäftigen.

6. Entweltlichung zum Heil und zur Heilung der Welt

In der heutigen Lesung war aus dem 1. Johannesbrief (2, 15ff) zu hören:

Liebt nicht die Welt und was in der Welt ist! Wer die Welt liebt, hat die Liebe zum Vater nicht. Denn alles, was in der Welt ist, die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und das Prahlen mit dem Besitz, ist nicht vom Vater, sondern von der Welt.

Also nicht die Angleichung an eine vom Begehren nach immer mehr geprägte Welt kann unser Weg als Christen sein. Wir haben vielmehr die Liebe zum Vater in die Welt zu tragen. Und das Wort ist Fleisch geworden! Die Welt kann und soll sich wieder mehr an Gott anbinden, damit Christi Licht in ihr scheinen kann. Es braucht die Geburtshelfer für die Gottesgeburt heute. Es braucht uns Getaufte.

Inmitten dieser Krisenphänomene und der Suchbewegungen darf die Rede von Papst Benedikt im Freiburger Konzerthaus als prophetische Botschaft gedeutet werden.

Der Papst rief die Kirche, also jeden von uns zur Entweltlichung auf. Nicht Kampf gegen die Welt, nicht Rückzug in den elfenbeinernen Turm predigte er damit. Ganz im Geist der Worte aus dem Johannesbrief ermunterte er uns, Zeugen der Liebe des Vaters zu sein.

Mit dieser Liebe verträgt sich nicht ein Lebensstil des Begehrens, Prahlens und immer mehr Haben-wollens. Diese Liebe bewahrheitet sich, indem sie den Willen Gottes in der Welt zu verwirklichen sucht. Die Kirche, der einzelne Gläubige können also nicht distanz- und kritiklose Diener dieses Weltgeistes sein.

Unsere Hände, die immer wieder gerne nach der Welt des Begehrens und Habens greifen, müssen lernen loszulassen, leer werden, um die Fackel der Liebe hineintragen zu können in die Welt. Die Kirche bietet uns viele Möglichkeiten, diese Haltung in kleinen Schritten im Alltag bereits einzuüben, etwa im Verzicht während der Fastenzeit, im Freitagsopfer, im Teilen, im Teilen bei unseren Kollekten, besonders bei den großen – Adveniat, Misereor. Wir bekunden damit, die Güter der Erde gehören allen Menschen, was die frühen Kirchenväter nicht müde werden, immer wieder zu betonen. Wir üben das Loslassen ein im ehrenamtlichen Engagement und dem damit verbundenen Zeit-Opfer in unseren Pfarreien und in unseren kirchlichen Verbänden.

7. Unser Dienst als Christen - Hoffnung für die Welt

Liebe Schwestern und Brüder, der Papst hat mit dem Begriff „Entweltlichung“ nicht kleinlich Weisung geben wollen, was wir von unserer Packliste auf dem Weg durch die Zeit streichen müssen. Es ging ihm vielmehr um die christliche Eschatologie, um die christliche Hoffnung auf den Gott der Lebenden und der Toten, auf den Gott der Zukunt, was wir verkünden und vorleben sollen. Und die gelebte Hoffnung auf die Zukunft bei Gott wird vieles immer wieder hinterfragen und relativieren, was in dieser Welt so wichtig erscheint.

Der Mensch ist berufen zur Zukunft bei Gott! Daraus erwächst dem Menschen Hoffnung über all sein persönliches Können und Haben oder auch Nicht-Besitzen hinaus. Angesichts dieser großen Berufung sollen uns Resignation oder Ängste vor der Zukunft nicht quälen.

Der heilige Augustinus deutet den Weg in die Zukunft als erfüllte Zeit, als Zeit, in der Gott wirkt. Er sagt in einer seiner Predigten: „Gott hat die eine Zeit bestimmt für seine Verheißungen und die andere Zeit für deren Erfüllung. Die Zeit der Verheißungen reichte von den Propheten bis zu Johannes dem Täufer; von da an bis zum Ende reicht die Zeit, in der die Verheißungen erfüllt werden.“ Ein tröstliches Wort! Bei all den Herausforderungen und Krisen, die uns begegnen, wir befinden uns in der Zeit der Erfüllung in der Gott am Werk ist. Und Augustinus fährt fort: „Gott ist treu; er hat sich selbst zu unserem Schuldner gemacht, nicht dadurch, dass er von uns etwas angenommen hätte, sondern dadurch, dass er uns so Großes versprach.“

Gott hat seinen Sohn nicht zum Wegweiser gemacht, „er machte ihn selbst zum Weg, damit er dich beim Gehen leitet…“ (Augustinus: In Ps 110 (109), Lektionar zum Stundenbuch II, 1, 55f)

Unsere Zeit ist Zeit der Erfüllung. Gott ist schon am Werk, der Weg ist erkennbar, in Jesus Christus. Begeben wir uns vertrauensvoll auf diesem Weg hinein in die Zeit, in die Welt, um die Liebe des Vaters durch unser Wort und Tun zu bezeugen. Damit geben wir der Welt Hoffnung. Und wir dürfen wissen, Er, der Sohn, begleitet uns, begleitet mich und dich beim Gehen.

Amen