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Im Wortlaut

Predigt des Hochwürdigsten Herrn Bischof Gregor Maria Hanke OSB anlässlich der Jahresabschlussandacht am 31. Dezember 2019 im Eichstätter Dom

Liebe Schwestern und Brüder,

Anfang Februar dieses Jahres konnte ich eine Solidaritätsreise nach Syrien zu christlichen Gemeinden unternehmen. Ich wusste mich dabei auf den Spuren des heiligen Willibald, dessen Pilgerweg vom Heiligen Land nach Konstantinopel durch Syrien und an die heiligen Stätten des Landes führte. Er hielt wohl seine schützende Hand über diese Reise in das Land, in dem die Menschen aller Religionen, gerade auch unsere christlichen Schwestern und Brüder, schwere Zeiten durchlebten und in dem die Menschen nach wie vor unter schrecklichen Kriegsfolgen leiden.

In Damaskus sah ich auf dem Schulhof der kirchlichen Schule, in deren Nachbarschaft wir wohnten, die Spuren der Granateinschläge, die wenige Monate zuvor nichtsahnende unschuldige Schüler getötet und andere verletzt hatten. Der Anblick der zerschossenen, ja zerstörten Stadtviertel in Homs und in der im Norden gelegenen Stadt Aleppo samt den in Ruinen wohnenden Menschen ist mir in trauriger Erinnerung geblieben. Die in Aleppo vernehmbaren Detonationen aus dem unmittelbar an die Stadt angrenzenden Rebellengebiet von Idlib und die Berichte von den Grausamkeiten des dort errichteten „Gottesstaates“ ließen mich erahnen, wie weit ein wirklicher Friede noch entfernt ist.

Groß war in den christlichen Gemeinden die Freude über unseren Besuch, denn unsere Anwesenheit sagte den Menschen, dass sie nicht vergessen sind. In meiner Erinnerung steigen Gesichter auf, auch Kindergesichter, in die sich Trauer und Schmerz über schreckliche Kriegserlebnisse eingezeichnet haben. Manchen Kindern und Jugendlichen hat die Brutalität der Ereignisse buchstäblich die Sprache verschlagen und sie therapiebedürftig gemacht. Viele Christen, denen ich begegnete, mussten die Hölle erlebt haben. Manche erzählten von ihren Ängsten angesichts des Vorrückens des IS in ihr Stadtviertel, in ihre Straße. Wie sie aus dem Versteck die Schändung der Kirche oder gar die Sprengung des Gotteshauses oder der christlichen Schule durch die IS-Schergen miterlebten oder zusehen mussten, wie Angehörige und Freunde zu Tode kamen.

Trotz des zurückliegenden Leids und der Beschwernisse des alltäglichen Lebens, welche die einfache Bevölkerung nicht zuletzt durch das westliche Embargo durchleidet, wurden wir von den Menschen, Christen wie Muslimen, überall mit große Freundlichkeit aufgenommen. Auch das Oberhaupt der Muslime, der Großmufti in Damaskus, empfing uns bei der Privataudienz mit Freundlichkeit und Offenheit. Vor allem bewegte mich die tiefe, innige Gläubigkeit, die ich in den christlichen Gemeinden in Liturgie und Begegnungen antraf.

Mir wollte die Frage nicht aus dem Sinn gehen, was denn diese Christen so fest stehen ließ angesichts der lebensbedrohlichen Feindseligkeit und Brutalität in den Kriegstagen, warum sie nicht verzweifelten. Gewiss, viele Christen flohen und verließen die Heimat, besonders jüngere, die für sich in Syrien keine Zukunft mehr sehen. Andere blieben und hielten in der aussichtslos erscheinenden Situation stand.

Diese Frauen und Männer erinnerten mich ebenso wie die Priester in den dortigen Gemeinden an die Standfestigkeit eines sturmumtosten Baumes. Der kann vor dem Unwetter nicht fliehen. Je tiefer er im Boden verwurzelt ist, desto eher hält er stand, auch wenn er gebeutelt und verletzt wird. Sicher mögen auch menschliche Gründe unseren christlichen Geschwistern das Bleiben nahegelegt haben, die Liebe zur Heimat, die Verbundenheit mit der Verwandtschaft. Doch inmitten des Schreckens und des Unheils trägt auch das nicht mehr. Das Bild vom Baum hilft die Haltung der Schwestern und Brüder zu deuten: Tief verwurzelt, verwurzelt in Gott, im Glauben an den nahen Gott. Vielleicht hilft ein weiteres Bild, die Tapferkeit und die Geduld zu verstehen: Das von Jesus selbst verwendete Bild vom Feuer: „Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen.“ (Lk 12,49). Damit drückt der Herr aus, dass Jüngersein keine ruhige Komfortzone, kein Honigschlecken ist.

Eine echte und lebendige Beziehung mit dem Herrn, der Glaube an ihn entfaltet große Kraft, wie die Feuerzungen des Pfingsttages erahnen lassen. Offensichtlich musste das Feuer des Glaubens in vielen unserer Brüder und Schwestern heller gebrannt haben als die auf sie zurollende Feuerwalze des unheilvollen Krieges.

Der Glaube als Leuchtfeuer, in dem die Person Christi für andere Menschen erfahrbar wird, gleich dem brennenden Dornbusch für Mose. Papst Johannes Paul II. griff das prophetische Anliegen Pauls VI. auf, der eine von der Glut des Glaubens erfüllte Kirche ersehnte, die evangelisiert, die Zeugnis gibt. Papst Johannes Paul wählte den Begriff der Neuevangelisierung im Blick auf jene Teile der Welt, in denen das Evangelium längst verkündet wurde, die Glut des Glaubens aber schwindet.

Wenn heute die Notwendigkeit der Neuevangelisierung betont wird, ist dies keine implizite Kritik an der bisherigen Pastoral oder gar die Unterstellung, es mangle ihr an Zeugnischarakter. Vielmehr zielt der Begriff Neuevangelisierung auf die gewandelte Situation in der westlichen, einst christlich geprägten Welt. Papst Franziskus beschrieb jüngst die veränderte Lage vor der römischen Kurie wie folgt:

„Menschen, denen das Evangelium noch nicht verkündigt worden ist, leben keineswegs nur in den nicht-westlichen Kontinenten [. … Wir brauchen] andere Paradigmen, die uns helfen, unsere Denkweisen und Grundeinstellungen neu auszurichten[. …] Wir brauchen daher einen Wandel im pastoralen Denken, was freilich nicht heißt, zu einer relativistischen Pastoral überzugehen. Das Christentum ist keine dominante Größe mehr, denn der Glaube […] stellt keine selbstverständliche Voraussetzung des allgemeinen Lebens mehr dar, sondern wird oft sogar geleugnet, belächelt, an den Rand gedrängt und lächerlich gemacht.“[1]

Liebe Schwestern und Brüder, diese Realität erfahren wir längst auch in unserer Umgebung bis hinein in unsere Familien. Papst Franziskus hatte bereits anlässlich des Ad-limina-Besuches der deutschen Bischöfe in seinem Brief an uns von der Erosion des Glaubens gesprochen.

Es braucht Zeugen Christi, die nicht überreden, sondern in denen eine Glut spürbar ist, die durch ihre persönliche Glaubenserfahrung und Glaubenspraxis auskunftsfähig sind, die als glaubwürdig erfahren werden, die Vertrauen wecken und anziehend wirken, so dass viele Menschen der Person Christi in der Gemeinschaft der Kirche begegnen wollen.

Bei diesem Dienst kommen wir nicht ohne Strukturen aus. Diese sind jedoch kein Selbstzweck wie Papst Franziskus betont: „[D]ie Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur [müssen] ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient. Die Reform der Strukturen, die für eine pastorale Neuausrichtung erforderlich ist, kann nur in diesem Sinne verstanden werden: dafür zu sorgen, dass sie alle missionarischer werden“.[2]

Im vergangenen Jahr hat die Jugendsynode das Anliegen des Papstes, die Evangelisierung, die missionarische Pastoral im Blick auf die Jugend aufgegriffen: Jugendpastoral als Ermöglichung und Förderung der Suche junger Menschen nach dem Wort und Weg Gottes für das eigene Leben, also Jugendpastoral in Verbindung mit einer in der Sendung aus Taufe und Firmung gründenden Berufungspastoral.

Die in diesem Jahr in Anlehnung an die inhaltliche Ausrichtung der Jugendsynode neu errichtete Hauptabteilung in unserem Ordinariat soll das Anliegen der Evangelisierung und Neuevangelisierung lebendig halten. Die neue Hauptabteilung übernimmt allerdings nicht das Thema „Evangelisierung“ als eine Art Spartenerweiterung der bisherigen Pastoral. Überdies wird Pastoral - auch missionarische Pastoral - nicht im Ordinariat gemacht, sie lebt - oder lebt nicht - in der Pfarrei, im Pastoralraum, in Verbänden, an geistlichen Zentren, etwa an Wallfahrtsorten, in Klöstern, in geistlichen Bewegungen, Gemeinschaften und Gebetsgemeinschaften, in kirchlichen Häusern.

Das Ordinariat mit seinen entsprechenden Hauptabteilungen hat der Pastoral zu dienen, sie zu fördern und zu koordinieren. So auch die neue Hauptabteilung: sie soll vorhandene Initiativen der Evangelisierung unterstützen, begleiten und Anregungen für eine evangelisierende Pastoral geben. Nicht eine Fachabteilung, wir alle sind gerufen, das pfingstliche Feuer des Glaubens in uns neu zu entfachen, um Licht für die Welt zu sein. Mein Weg der Selbstevangelisierung und meine Haltung der Umkehr lässt das Feuer brennen, nicht schon das mit Konzepten bedruckte Papier.

Umkehr und geistliche Erneuerung der Kirche in Deutschland ist angesagt angesichts des sexuellen Missbrauchs inmitten der Kirche während der vergangenen Jahrzehnte. Warum fanden die Opfer mit ihrem Leid oft nicht Gehör bei kirchlichen Verantwortlichen, während Priestertäter und die Institution Kirche geschützt wurden?

Welches Bild oder Zerrbild von Kirche, von Priestertum und Christsein musste vorgeherrscht haben, dass Priester solche Verbrechen begehen konnten und innerkirchlich eine laxe, ja vertuschende Umgangsweise mit den Schandtaten möglich wurde?

Handelte es sich doch um ein himmelschreiendes Unrecht im Blick auf die verletzten Menschen und auf das Evangelium. Der Missbrauch geistlicher Macht lässt nach dem rechten Umgang mit Macht in der Kirche fragen, nach Verantwortung und Rechenschaft. Welche charakterlich-geistlichen Persönlichkeitsprofile braucht es in Verantwortungspositionen? Wie können die Botschaft des Evangeliums und die Lehre der Kirche in uns einen Prozess der geistlichen und menschlichen Reifung initiieren?

Seit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle herrschte Konsens, dass ein „Weiter so“ nicht möglich ist. Das Bemühen um eine Erneuerung der Kirche ist der Weg in die Zukunft. Die Bischöfe haben sich zusammen mit den Laienvertretern auf den sogenannten Synodalen Weg verständigt, der das ganze Volk Gottes in einen Prozess der Erneuerung einbinden soll.

Die zwischenzeitlich entstandene Dynamik verknüpft nun allerdings Themen und Erwartungen mit diesem Weg, die nicht originär mit dem Ziel des geistlichen Aufbruchs im Gefolge der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Kirche zusammenhängen, sondern einer älteren Agenda angehören. Die Rede von der letzten Chance, die katholische Kirche mit der Realisierung dieser Themen wieder attraktiver zu machen, übersieht jedoch, dass die Austrittszahlen in jenen Kirchen in der Ökumene nicht geringer sind, die diese Agenda längst umgesetzt haben.

Einige der inzwischen mit öffentlichem Druck angemahnten Themen können zudem nicht von der Kirche eines einzelnen Landes entschieden werden oder stoßen gar an dogmatische Grenzen. Angesichts dieser Unschärfe des Zieles des Synodalen Weges ist am Ende eine große Enttäuschung zu befürchten.

Werden wir einen Weg der Erneuerung der Kirche im Blick auf die Geschehnisse des Missbrauchs finden oder dominiert den Synodalen Weg eine mehr kirchenpolitische Agenda? Gewiss lassen sich geistliche Erneuerung und Veränderung der Kirchengestalt nicht voneinander trennen. Erneuerungsbewegungen aus der Kirchengeschichte zeigen das Zueinander beider auf. Das Gesicht der Kirche, ihre Strukturen haben sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Reformbemühungen, die als Umkehrbewegung im Geiste des Evangeliums wirksam waren, setzten geistliche Kräfte frei, die schließlich auch die Gestalt der Kirche veränderten.

Die Entstehung des Mönchtums in der Alten Kirche als entschiedene Hinwendung zum Evangelium hat die Kirche verändert. Franz von Assisi und die Armutsbewegung haben die Kirche verändert. Gemeinsam war solchen Reformbewegungen, dass sie im Inneren des Einzelnen, in Bekehrung und Erneuerung des geistlichen Lebens verbunden mit Gemeinschaftsbildung ansetzte und das Wachstum der Liebe zu Gott und zu den Menschen förderten. Reform entwickelt sich dann weiter von Innen nach außen und erfasst natürlich auch Strukturen.

In diesem Prozess hat die Kirche als Gemeinschaft auf die Tradition und die weltweite kirchliche Communio zu blicken. Vor allem muss ein solcher Prozess des Wandels unterfangen sein von großer Geduld und der Bereitschaft des Hörens, ohne die ein Dialog nicht möglich wird. Solche und weitere Impulse gab Papst Franziskus in seinem leider zu wenig beachteten Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland.

Die Forderung nach einer Form der Bekehrung hat gerade mitten in der säkularen Gesellschaft Konjunktur. Die Bewegung Fridays for future mahnt zur ökologischen Umkehr. Christen müssten gegenüber dem Anliegen der Bewegung keine grundsätzlichen Bedenken hegen. Gründet doch unser Glaube auch im Bekenntnis zum Schöpfergott. Die Heilige Schrift deutet uns die Schöpfung als Gabe der überströmenden Liebe Gottes, als Garten, den der Mensch bebauen und pflegen, nicht zerstören soll. Ausdruck christlicher Lebenshaltung ist es, auf diese Gabe durch einen Lebensstil der Solidariät und des Maßhaltens zu antworten.

Gewiss gibt es Anfragen an die Bewegung Fridays for future. Wo bleiben etwa die Werktätigen und Auszubildenden, die es sich aufgrund ihrer Tätigkeit nicht leisten können, freitags auf die Straße zu gehen? Die Sorge um die Zukunft unserer Umwelt und die Ressourcen der Erde betrifft alle. Weiter ist zu bedenken, ob die Apokalyptik, das Drohende der Botschaft dieser Bewegung bei aller Dramatik der ökologischen Lage unseres Planeten das angemessene Mittel ist. Wir in der Kirche haben erfahren, dass Drohbotschaften den Menschen vielleicht aufrütteln, meist aber mehr erschrecken und abschrecken als ihn für sein Heil zu sensibilisieren.

Gott, der Schöpfer, verlässt seine gefallene Schöpfung nicht, sondern wird sie in Christus der Neuschöpfung und Vollendung zuführen. Dafür steht unser Friday for future seit fast 2000 Jahren, das Geschehen des Karfreitags, das die Grundlage unseres Glaubens ist, jener Freitag, an dem sich am Kreuz in der Seitenwunde Christi das Tor unserer Zukunft in die Liebe Gottes hinein auftat, das Tor zur Neuschöpfung aus Liebe. Davon soll unser Leben geprägt sein.

Seit ältesten Zeiten haben Christen den Freitag, diesen Zukunftstag mit Fasten und Verzicht begangen, um mit Armen zu teilen und Hungrige zu speisen. Sie bekundeten durch dieses Zeichen: wir sind nicht Besitzer der Welt und ihrer Güter, sondern Verwalter, denn wir erwarten die künftige Welt. Verwalter haben sich um Gerechtigkeit und das Wohl aller zu sorgen. Fasten als Verzicht auf Speisen und Konsum und das damit verbundene Teilen sollen in der Welt die Güte und Liebe Gottes bereits aufscheinen lassen. Die praktizierte Liebe ist Botin der neuen Schöpfung in Christus.

Die Menschwerdung Gottes in Betlehem macht ansichtig, dass die Rettung der Menschen und der Welt durch Gott kein geistiger Prozess ist. Gott rettet und heilt nicht an der Schöpfung vorbei, sondern durch sie hindurch, also auch durch mein und Dein Menschsein und Personsein hindurch, durch mein Handeln.

Lassen wir uns auch im Jahr 2020 vom Herrn in Dienst nehmen, an der Verwandlung der Welt mitzuwirken durch unser Glaubenszeugnis, durch die Freude des Glaubens und durch christlich-solidarisches Handeln im Blick auf die vielfältigen Nöte der Welt. Gott segne unsere Wege im Jahr 2020.

Amen.

 


[1] Papst Franziskus, Ansprache beim Weihnachtsempfang für die römische Kurie, 21. Dezember 2019.

[2] ebd.