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Im Wortlaut

Hirtenwort des Bischofs von Eichstätt Gregor Maria Hanke OSB zur Österlichen Bußzeit am 1. Fastensonntag, dem 22. Februar 2015

Liebe Schwestern und Brüder!

Das erste Buch Samuel des Alten Testaments schildert zu Beginn, wie Gott den jungen Samuel beruft (1 Sam 3). Samuels Eltern hatten ihr Kind in den Tempel von Schilo gebracht und den Knaben dem Herrn geweiht. Samuel sollte im Tempel Dienst tun. Eines Nachts wurde der Knabe durch eine Stimme aus dem Schlaf geweckt. In der Meinung, es sei der Priester Eli, der ihn zu sich gerufen hatte, stand er auf und ging zu ihm mit den Worten:
„Hier bin ich. Du hast mich gerufen!“ Aber Eli hatte ihn nicht gerufen. Als sich dieses Ereignis wiederholte, erkannte Eli, dass es der Herr sein musste, der dem jungen Samuel etwas sagen wollte. Samuel selbst konnte das Ereignis nicht deuten. Eli bereitete ihn vor, für die Stimme Gottes empfänglich zu werden. Die Heilige Schrift vermerkt dazu: Samuel kannte den Herrn noch nicht. In einer anderen Übersetzung heißt es: Samuel hatte den Herrn noch nicht erfahren.

Fehlende Gotteserfahrung im eigenen Leben
Liebe Schwestern und Brüder, diese Szene mit dem jungen Samuel im Tempel von Schilo weist auf uns selbst hin. Auch wir leben im Raum Gottes, wir sind als Getaufte und Gefirmte Tempel Gottes. „Wisst ihr nicht, dass ihr Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ ruft der Apostel Paulus den Korinthern zu (1 Kor 3,16).

Das Wort des Herrn erging an uns und ist gegenwärtig: in der Taufe, in der Firmung, in der Feier der Eucharistie, beim Schließen des Ehesakramentes oder beim Empfang der Weihe.
Das Wort des Herrn spricht uns an in der Heiligen Schrift und in Ereignissen und Widerfahrnissen, in Begegnungen, Worten, Fragen und religiösen Erfahrungen, in verschiedenen Anlässen des Alltags und des Lebens.

Unsere Situation gleicht der des jungen Samuel. Ein Ruf ist vernehmbar. Aber wir vermögen den Anruf nicht recht zu deuten. Solches ereignet sich auf unserem persönlichen Glaubensweg wie auch im Miteinander, in der Familie, in unseren Pfarrgemeinden, in unseren Verbänden und Gemeinschaften.

Es geht uns wie dem jungen Samuel, der aufstand und zu Eli lief. Auch wir bewegen viel, setzen uns ein, aber die Bewegung bleibt an der Oberfläche und kommt nicht ans Ziel, wenn die Erfahrung des Herrn fehlt.

Selbst den Jüngern Jesu blieb dieser Lernprozess nicht erspart. Jesus hatte sie erwählt. Sie zogen mit ihrem Meister durch Galiläa und Judäa und hörten seine Verkündigung, etwa die Bergpredigt mit den Seligpreisungen. Sie wurden Zeugen seiner machtvollen heilenden Worte, sie trugen Sorge um die vielen Menschen, als Jesus das Wunder der Brotvermehrung wirkte. Trotz der Nähe zum Herrn blieb alles äußerliche Aktivität und Betriebsamkeit. Denn im entscheidenden Moment, am Ölberg bei Jesu Verhaftung und bei seiner Kreuzigung, flohen sie. Sie hatten Jesus noch nicht wirklich erkannt und erfahren. Erst durch die Begegnungen mit dem Auferstandenen wuchs die Gotteserfahrung in ihnen.

Samuel hatte den Herrn noch nicht erfahren. - Wie können wir den Herrn erfahren, ihm wahrhaft begegnen?

Heilige sind Menschen der Gotteserfahrung
Die Heiligen der Kirche zeigen uns einen Weg. Heilige sind keine religiösen Superhelden, keine geistlichen Hochleistungssportler, sondern Jüngerinnen und Jünger Jesu wie wir. Was sie befähigte und befähigt, den Herrn zu erfahren, ist das Wissen um die eigene Bedürftigkeit und Armseligkeit im Lichte Gottes.

Heilige stehen in der Linie all der bedürftigen Menschen im Evangelium, welche in ihrem Leben die Kraft des Wortes des Herrn erfahren durften. Das waren nicht die Selbstzufriedenen oder diejenigen, die sich religiös für etwas Besonderes hielten, die Schriftgelehrten oder Pharisäer, auch nicht die Angesehenen der gesellschaftlichen und politischen Führungsschicht. Es waren die Bedürftigen, die Kranken und Armen. Menschen, die vom Herrn etwas erwarteten, die in ihrer Armseligkeit ihre ganze Hoffnung auf ihn richteten, durften den Herrn erfahren.

„Du hast auf die Niedrigkeit deiner Magd geschaut“, ruft die Gottesmutter Maria im Lobgesang des Magnificat aus, als sie ihre Verwandte Elisabeth besucht. „Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir“, schrie der blinde Bartimäus am Wegrand, als er vernahm, Jesus nähere sich. „Was willst du, dass ich dir tue?“, fragte ihn Jesus. „Ich möchte sehen können.“ Und Jesus heilte ihn. Er, der den Heiland erfahren hatte, folgte ihm, wie das Evangelium überliefert. (1)

Die Erkenntnis meiner Fehler als Eintrittstür des Herrn
Eine realistische Sicht meiner selbst und die liebende Sehnsucht und Hoffnung auf Christus sind die Türen zur Erfahrung des Herrn. Gerade die Erkenntnis meiner Sünden und Schwächen sind die Tabernakeltüren, hinter denen der Herr steht und durch die der Herr in mein Leben eintreten kann.

Heute erscheint es vorteilhafter, das Bild eines Starken, Souveränen und Perfekten abzugeben. Zugleich erleben wir die oft gnadenlose Jagd nach den Fehlern und Schwächen anderer Menschen. Die österliche Bußzeit lädt uns ein, den Panzer des Scheins abzulegen. Im Lichte des Herrn darf ich mir der eigenen Bedürftigkeit und Fehler bewusst werden. So kann ich mich in die Reihe der Personen des Evangeliums stellen, die in ihrer Schwachheit ihre Sehnsucht und Hoffnung ganz auf Jesus richteten und denen sich Jesus liebevoll zuwandte. Papst Franziskus setzte vor einiger Zeit ein starkes Zeichen des demütigen Vertrauens, als er sich öffentlich in der Peterskirche an einem Beichtstuhl kniend zeigte, um von einem Priester das Sakrament der Versöhnung zu empfangen.

In diesem Bewusstsein um die eigenen Fehler beten wir in der Liturgie der Kirche zu Beginn der Messfeier das Schuldbekenntnis. So soll der Erfahrung des Herrn der Weg bereitet werden. Unsere Bedürftigkeit kann durch die Eucharistiefeier zum Gefäß der Gnade Gottes gewandelt werden.

Über den Mitmenschen den Herrn erfahren
Die Begebenheit mit dem jungen Samuel im Tempel von Schilo veranschaulicht, wie wichtig auf unserem Weg der Jüngerschaft der Mitmensch ist, um den Herrn erfahren zu können. Samuel braucht den Priester Eli, um das nächtliche Zeichen als Rede Gottes an ihn deuten zu können. Die Begegnung mit dem Du kann zum Klangkörper des Wortes Gottes werden, das an mich ergeht.

Das Neue Testament zeigt gleichfalls diesen Zusammenhang auf. Die Apostelgeschichte etwa schildert, wie Gott Philippus zum Kämmerer der äthiopischen Königin schickt, der das Buch Jesaja liest, aber nicht versteht. Erst in der Begegnung mit Philippus erschließt sich dem einflussreichen Hofbeamten der Sinn des Gotteswortes (Apg 8,26-38).

Jesus deutet diesen Weg im Gebet an, das er den Seinen als Vermächtnis gibt: Vater unser. Es ist das Gebet der Gemeinschaft der Jünger Jesu, nicht das eines einzelnen. Gotteserfahrung lebt von der Vernetzung von Ich und Du. Schließlich haben uns Taufe und Firmung in die Gemeinschaft des Heiligen Geistes versetzt. Gott wohnt im Du. Das Ich ist durch den Herrn selbst aus seiner Enge befreit. Die Suche nach Gott braucht die Suche nach dem Du. In diesem Raum der Gemeinschaft des Heiligen Geistes findet das Ich über die Begegnung mit dem Du zu sich selbst, d. h. zu seiner Berufung und Sendung von Gott her. Schon die Schöpfungsgeschichte stellt heraus, dass der Mensch auf das Du hin angelegt ist. Die Schöpfung ist erst dann vollendet, als der Mensch im Paradies nicht mehr alleine ist, sondern ein menschliches Gegenüber hat. In der menschlichen Gemeinschaft kommt die Schöpfung zum Ziel (vgl. Gen 2,18-25).

Über das Du des anderen erschließt sich mir das Ereignis oder Widerfahrnis in meinem Leben als Wort des Herrn. So ist es auch die persönliche Begegnung, die den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus das für sie unverständliche und schmerzliche Kreuzesgeschehen eröffnet und den Plan Gottes dahinter aufzeigt.

Den Weg bereiten für die Erfahrung Gottes
Liebe Schwestern und Brüder, die Vorbereitungszeit auf Ostern hin lädt uns ein, den Mitmenschen, sei es in der Ehe, in der Familie, in der Verwandtschaft oder in meinem Umfeld, als Botschaft für mich anzunehmen. Allzu leicht sehen wir das Belastende und Beschwerliche im Miteinander und bleiben blind für das, was mir Gott durch das Du sagen und erschließen will, wie er mich durch das Du trainieren möchte gerade in schwierigen Phasen.

Wenn wir uns in demütigem Vertrauen und voll Sehnsucht nach Gott ausstrecken, dann können wir seinen Anruf in der Begegnung mit dem Nächsten, im Du des Mitmenschen erkennen. Die Fastenzeit bietet uns eine gute Gelegenheit dafür, den Weg für die Erfahrung Gottes zu bereiten. Ihnen, den Eheleuten und Familien, den Pfarrgemeinden mit den Gruppen und Verbänden, den Ordensgemeinschaften und allen geistlichen Gemeinschaften wünsche ich, dass Sie in Ihrem Miteinander immer wieder die Erfahrung machen dürfen, die dem jungen Samuel geschenkt wurde: Es ist der Herr, der zu mir, zu uns spricht und uns sendet.

Es segne Sie der dreieinige Gott: der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Eichstätt, den 14. Februar 2015, Fest der Patrone Europas Cyrill und Methodius

Ihr

Gregor Maria Hanke OSB
Bischof von Eichstätt


(1) Markus 10,46-52; Lukas 18,35-43; cf. auch Matthäus 20,29-34