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26.11.2024

„Ich bin nur ein Mensch“ - Zeitzeuge Abba Naor zu Gast in Ingolstadt

Zeitzeuge Abba Naor im Gespräch mit Ingolstädter Gymnasiasten. Mit im Bild: Schulpastoral-Referent Joachim Kohler. Foto: Michael Heberling

Ingolstadt - Unterm Dach der Ingolstädter Stadtbibliothek ist Platz für 99 Zuhörer. Mehr geht nicht, feuerpolizeiliche Anweisung. An diesem Abend sind die bereitgestellten, zum Teil vorab reservierten Stühle in sehr kurzer Zeit besetzt, einige Interessierte müssen draußen bleiben. Den so gut nachgefragten Vortragsabend hat das Katholische Bildungswerk mit dem wenig lockenden Zitat beworben: „Seelisch bin ich immer noch im KZ“. Es stammt von Abba Naor, einem 96-jährigen jüdischen Holocaustüberlebenden, der als einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen von der Verfolgung und Vernichtung des jüdischen Volkes durch die Nationalsozialisten aus eigener Erfahrung berichten kann und will. Er ist nicht zum ersten Mal in Ingolstadt, seit 2010 kommt er jährlich, hält einen Abendvortrag und besucht anderntags das Gnadenthal-Gymnasium.

Zerstörte Kindheit

Abba Naor ist 1928 in Kaunas (Litauen) geboren. Als 13-Jähriger erlebt er den Einmarsch der deutschen Wehrmacht, mit seinen Eltern und den beiden Brüdern flüchtet er nach Vilnius, kommt zurück nach Kaunas, muss ins Ghetto ziehen. Sein älterer Bruder wird auf der Suche nach Lebensmitteln erschossen. 1944 wird die Familie ins Lager Stutthof deportiert und dabei getrennt. Naors Mutter und sein jüngerer Bruder kommen nach Auschwitz, wo sie 1944 ermordet werden. Der Vater kommt ins Außenlager Allach, Naor in verschiedene Dachauer Außenlager, zuletzt ins Außenlager Kaufering V in Utting, wo er Schwerstarbeit verrichten muss. Die Häftlinge treten den Todesmarsch an, bei dem viele sterben, oder, weil erschöpft, erschossen werden. Im Mai 1945 befreien amerikanische Soldaten die Häftlinge. Der Krieg ist zu Ende, für den 17-Jährigen beginnt ein neues Leben.

Über die folgenden mehr als fünf Jahrzehnte, in denen Naor in Israel viele spannende und beglückende Dinge erlebt, spricht er nicht. Stattdessen hören wir seinen Bericht leibhaftig erlittener Verfolgung und Gefangenschaft, vier Jahre voller Angst, Hunger und Schmerzen, Jahre voller Gewalt und Tod, voller Verzweiflung und Trauer. Das ist zu keinem Zeitpunkt ein abgeklärter Vortrag, Naor erzählt und er tut es ohne rhetorisches Kalkül, schnörkellos, in kurzen Sätzen. Frei von falscher Sentimentalität, liefert er Fakten, vermeidet nachträgliche Interpretationen. Er will weder Empörung provozieren noch Empathie erschleichen, er erzählt nicht mehr und nicht weniger als die „traurige Geschichte“ seiner zerstörten Kindheit.
 

Im Zentrum von Naors Bericht steht die Schilderung seines Familienlebens. Die jüdische Minderheit im überwiegend katholischen Litauen lebte lange friedlich und auskömmlich. Eine beschützte Kindheit habe er in den ersten Lebensjahren erlebt, trotz der schweren Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. „Wir lebten miteinander, nicht nebeneinander“, erzählt Naor. Man war aufgehoben in der Großfamilie, und, selbst mit 21 Personen in einer Drei-Zimmer-Wohnung, „beengt, bedrängt, aber glücklich“. Man half einander und lebte in der Hoffnung „Irgendwann wird es besser“. Selbst als die Schikane, die Gewalt, schließlich das Morden an den Juden immer planmäßiger, systematischer geschahen, dachte man, es könnte doch besser werden, hoffte auf Befreiung durch die Russen. Doch dafür war es schon zu spät. „Als Kinder verstanden wir nicht, was da genau vor sich ging“, schreibt Naor auch In seinem autobiografischen Buch „Ich sang für die SS.“

Was haben wir getan?

Seit fast drei Jahrzehnten besucht Abba Naor Schulen und erzählt Jungen und Mädchen die Geschichte seiner Kindheit. Es sind meist die Klassen, deren Lehrplan gerade den Nationalsozialismus vorsieht - wie die drei Neunten des Gnadenthal-Gymnasiums Ingolstadt, die den Gast an einem nasskalten Novembertag in der Turnhalle ihrer Schule erwarten. Seit Anfang der 1990er- Jahre organisiert Joachim Kohler, der Referent für Schulpastoral am Gnadenthal-Gymnasium, zusammen mit den Lehrkräften für Geschichte und Religion Begegnungen der Schülerinnen und Schüler mit Abba Naor. Rund 70 Jungen und Mädchen sind bei der Sache, sie mögen Wikipedia-Wissen über ihren Gast haben, über sein ehrenamtliches Engagement in nationalen und internationalen Gedenk-Initiativen und Stiftungen, über seine Schirmherrschaften, seine Auszeichnungen wie das Bundesverdienstkreuz und den Bayerischen Verdienstorden. Über das, was er ihnen an diesem Morgen erzählt, haben sie bestenfalls Geschichtsbuchwissen. Dieser Bericht hier trifft sie anders.

Unter den Bildern, die Abba Naor auf einer Leinwand zeigt - trostlose, teilweise erschreckend grausame Schwarzweiß-Aufnahmen - fallen drei Farbfotos aus dem Rahmen, Fotos unbeschwert lachender Kinder, seiner Urenkel, wie er verrät, die heute auch schon Mittzwanziger sind. „Sie leben“, sagt er und fragt: „Warum mussten so viele, fast 1,5 Millionen Kinder, im Dritten Reichs sterben, was hatten sie getan, dass man sie zum Tod verurteilte, ermordete?“ Da ist sie wieder, die quälende Frage, die der junge Abba schon damals immer wieder stellte: „Was haben wir getan?“ Die unausgesprochene Antwort dröhnt in der nicht enden wollenden schmerzhaften Stille.

 

Immer wieder kommt aber auch das Wort Hoffnung vor in Abba Naors Erzählung. Man wundert sich, angesichts so vieler unmenschlich brutaler Situationen, die er erlebt hat und ist vollends verblüfft, wenn er seine Lebensbilanz in dem Satz zusammenfasst: „Leben ist eine feine Sache“. So verwundert es auch nicht, dass er seine Mission, obwohl sie mit größeren Anstrengungen verbunden ist, als noch vor ein paar Jahren, nicht einfach so abschließt: „Wenn mich einer einlädt, dann komme ich“. Durch sein Erzählen, so erklärt er, halte er diejenigen aus seiner Familie am Leben, die er in den schlimmen Jahren verlor: „So lange ich lebe, will ich sie lebendig um mich haben“. In vier Monaten wird Abba Naor - verwitwet, zwei Kinder, fünf Enkel, elf Urenkel - 97 Jahre alt. Ohne zu kokettieren sagt er: „Meine Zeit ist abgelaufen, ich bin ja längst auf dem Weg, Goodbye zu sagen“. Er weiß, dass er einer der letzten noch lebenden Zeitzeugen ist. Was sein wird, wenn niemand mehr aus eigener Erfahrung wird berichten können, weiß er nicht zu sagen. Er hoffe, dass der Same der Versöhnung, den er bei so vielen Begegnungen mit jungen Menschen in all den Jahren säen konnte, irgendwie aufgeht und dass die Früchte gute sein werden und in diesen unruhigen Zeiten helfen.

"Ich bin kein Politiker"

Natürlich wird Naor bei seinen Veranstaltungen immer wieder auch nach Themen befragt. Natürlich wollen die Zuhörenden wissen, was er von der Wiederwahl Donald Trumps denkt, die an diesem Tag gerade durch die Medien geht. „Heute fängt eine ganz neue Zeit an“, antwortet er vorsichtig und schweigt. Ob er Angst habe um den Frieden in der Welt? „Es geht uns gut, warum sollten wir das zerstören?“, ist seine Antwort. Jemand spricht den grausamen Konflikt im Nahen Osten an. Er erwidert: „Ich bin kein Politiker und kein Gelehrter. Ich bin nur ein Mensch, der seine Geschichte erzählt.“

Michael Heberling für [inne]halten – Die Kirchenzeitung für das Bistum Eichstätt

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