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17.02.2025

„Wahl darf nicht im Affekt erfolgen“ – Interview mit dem Politikwissenschaftler Prof. Klaus Stüwe zur Bundestagswahl

Portraitfoto von Prof. Klaus Stüwe

Prof. Klaus Stüwe, Politikwissenschaftler und Mitglied des Diözesanrats der Katholiken im Bistum Eichstätt. Foto: upd.

„Das Verhältnis von Staat und Kirche muss weiterentwickelt werden“ – das ist die Schlussfolgerung des Politikwissenschaftlers Prof. Dr. Klaus Stüwe im Blick auf die innenpolitischen Vorgänge angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl. Die Logik der Demokratie werde nicht mehr richtig verstanden, diagnostiziert der Inhaber des Lehrstuhls für vergleichende Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, deren Vizepräsident er zugleich ist. Stüwe warnt in einem Interview vor einer „Wahl im Affekt“, Demokratie sei eine anspruchsvolle Ordnungsform, die unabhängigen Informationsaustausch benötige. Politische Fragen seien oft viel zu komplex, so Stüwe, „und der Gottesdienst ist kein Ort für politische Positionierung“.

Herr Prof. Stüwe, noch knapp eine Woche, dann wählt Deutschland in einer vorgezogenen Neuwahl den 21. Deutschen Bundestag. Wir erleben gerade einen beispiellosen Wahlkampf, geprägt von verbaler Rohheit und radikaler Rhetorik, stellenweise gezeichnet von Rat- und Orientierungslosigkeit. Die komprimierte Phase des Wahlkampfs, der sich durch den vorgezogenen Wahltermin und die generelle Dringlichkeit angesichts der innenpolitischen Lage geradezu explosionsartig entfaltet hat, wird zusätzlich erschüttert durch die Anschläge in Mannheim, Magdeburg, Aschaffenburg, München und die resultierenden Schockwellen. Die Erregung und die Aggression in den politischen Parteien und in der Bevölkerung scheinen unaufhaltsam zu wachsen. Erinnern Sie sich ähnlich zugespitzter Wahlkämpfe in den zurückliegenden Jahren, Jahrzehnten?

Klaus Stüwe: Dazu muss man zunächst sagen: Konflikte sind in einer Demokratie völlig normal und notwendig. In einer pluralistischen Gesellschaft gibt es vielfältige Interessen und Haltungen, die miteinander ringen und sich durchsetzen wollen. Es entspricht nun einmal der Natur des Menschen, dass wir verschieden und nicht immer einer Meinung sind. Die Demokratie geht von dieser Vielfalt aus. Sie schafft den Konflikt der verschiedenen Interessen deshalb keineswegs ab, sondern nutzt ihn positiv, indem sie ihn kanalisiert und durch den Austausch der Argumente zu gemeinwohlorientierten Entscheidungen führt. Dies kann auf Dauer aber nur funktionieren, wenn die beteiligten Bürgerinnen und Bürger diese Logik der Demokratie anerkennen, sie als die beste politische Ordnungsform schätzen, einen Grundkonsens über bestimmte gemeinsame Werte teilen und Vertrauen in die politischen Institutionen und Prozesse haben.

Nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen etablierten Demokratien in Europa und in den USA gibt es Anzeichen, dass diese Voraussetzungen schwächer werden. Die Logik der Demokratie wird von vielen nicht mehr richtig verstanden. Meinungen, Weltanschauungen und politische Positionen scheinen sich immer weiter voneinander zu entfernen. Wir beobachten seit etwa zehn Jahren eine zunehmende politische und auch gesellschaftliche Polarisierung, die sich insbesondere an den Politikfeldern Zuwanderung, Wirtschaft und Klima entzündet. Zudem schwindet das Vertrauen in die politischen Institutionen, dass sie diese Themen richtig anpacken. Auch sehen wir, dass viele Menschen, befeuert nicht zuletzt durch die neuen sozialen Medien, zunehmend feindselig gegenüber denjenigen eingestellt sind, die andere Ansichten vertreten als sie selbst. Das ist eine Entwicklung, die in dieser Form neu ist und zu gravierenden Veränderungen in der Parteienlandschaft geführt hat. Und natürlich wirkt sich diese Situation auch auf den aktuellen Bundestagswahlkampf aus.

Angesichts der beschriebenen Vorgänge geraten Wählerinnen und Wähler sichtlich unter Druck. Wie erhalten wir die Besonnenheit zurück, die für eine verantwortliche Wahlentscheidung unverzichtbar ist?

Die Wählerinnen und Wähler sollten sich von der gegenwärtigen Polarisierung und der Aufregung im Wahlkampf möglichst nicht anstecken lassen. Eine demokratische Wahl darf nicht im Affekt erfolgen. Die Bürgerinnen und Bürger sollten sich vielmehr sorgfältig über die verschiedenen Angebote der demokratischen Parteien informieren und am Ende eine verantwortungsbewusste Entscheidung treffen: Welche Grundwerte einer Partei teile ich am stärksten und stehen sie auf dem Boden der Verfassung? Bei welchen konkreten Politikvorhaben stimme ich am ehesten zu? Welche Kandidatinnen und Kandidaten überzeugen mich am meisten? Welche Folgen kann meine Wahlentscheidung haben? Das sind die Fragen, die man sich vor der Wahl stellen muss. Wer so vorgeht, beweist politische Klugheit – sie ist eine der Kardinaltugenden. Dabei darf niemand erwarten, dass seine oder ihre Positionen zu 100 Prozent von einem bestimmten Parteiprogramm abgedeckt werden. Das wäre eine Illusion. Auf dieser Welt ist nichts perfekt, und auch eine Wahlentscheidung bleibt am Ende immer eine Güterabwägung.

Es ist wohl weniger das Studium der Parteiprogramme als die mediale Vermittlung der jeweiligen politischen Ziele die ausschlaggebend dafür ist, welche Wahlkampfthemen in der Bevölkerung auf Resonanz stoßen und die Debatten dominieren. Wie können die Wählerin /der Wähler hier den Überblick bewahren?

Demokratie ist eine anspruchsvolle Ordnungsform. Sie verlangt aktive Bürgerinnen und Bürger. Sie fordert von ihnen, dass sie sich informieren, um verantwortungsvoll ein politisches Urteil oder eine Wahlentscheidung treffen zu können. Nur wer genügend informiert ist und sich auch mit gegensätzlichen Positionen und Argumenten auseinandersetzt, kann wirklich teilhaben. Deshalb ist es wichtig, parteipolitische, aber auch unabhängige Informationsangebote wahrzunehmen. Die Medien spielen dabei eine wichtige Rolle, auch und gerade wenn man nicht alles teilt, was dort thematisiert wird. Es sollte nicht so sein, dass man – etwa in den sozialen Medien - immer nur in seiner eigenen Blase bleibt und nur Informationen annimmt, die der eigenen Meinung entsprechen. Abweichende Meinungen helfen uns dabei, das eigene Urteil zu schärfen und persönliche Positionen kritisch zu überdenken. Für diejenigen, die nicht genug Zeit haben, viele verschiedene Wahlprogramme zu lesen, gibt es übrigens im Internet gute Überblicksdarstellungen oder Entscheidungshilfen wie z.B. den Wahl-o-Mat und vergleichbare Tools.

Die Zuspitzung des Wahlkampfs auf die Thematik Integration von Flüchtlingen/Abschiebung von straffällig gewordenen Personen und Gefährdern, hat auch einen schon älteren Dissens zwischen Politik und Kirche neu aufbrechen lassen. Zuletzt hat der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Markus Söder die Kirchen nicht nur zur Mäßigung aufgerufen, was deren politische Stellungnahmen zur Flüchtlingsfrage angehe, sondern auch wenig subtil darauf hingewiesen, dass die christlichen Politiker noch immer zur Kirche stünden und sie finanziell wesentlich unterstützten. Winkt da wer mit dem Maulkorb?

Der Verweis des Ministerpräsidenten auf die finanziellen Leistungen des Staates an die Kirchen war überflüssig und ein wenig Wahlkampfgetöse. Aber davon abgesehen empfand ich das Papier, das die Berliner Vertreter der evangelischen Kirche und der katholischen Bischofskonferenz im Vorfeld der jüngsten Anträge zur Migrationspolitik an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags schickten, als nicht hilfreich. Sie hatten kein Mandat dafür. Offensichtlich hatte der Ständige Rat der Bischofskonferenz sich vorher sogar ausdrücklich gegen einen solchen Schritt ausgesprochen. Das wäre richtig gewesen. In einer aufgeheizten politischen Debatte einseitig Position zu beziehen, ist nicht Aufgabe der Bischofskonferenz. Wenn überhaupt, dann sehe ich diese Rolle bei den kirchlichen Laiengremien wie dem ZdK, die einen gesellschaftspolitischen Auftrag und womöglich auch mehr Sachverstand haben. Aber auch hier müsste vorher ein Abstimmungsprozess stattfinden. Wenn man sich aber wie die Berliner Kirchenbüros so dezidiert zu einer tagespolitischen Frage äußert, dann darf man sich nicht wundern, wenn dies später parteipolitisch instrumentalisiert wird – von der einen Seite, die damit süffisant im Bundestag argumentiert, oder von der anderen Seite, die sich davon attackiert fühlt.

Wieviel Politik darf eine zeitgemäße Predigt enthalten?

Aufgabe des Priesters ist es in erster Linie, die Eucharistie zu feiern, das Evangelium zu verkünden und die Menschen pastoral zu begleiten. Politische Reden halten gehört nicht dazu. Das Zweite Vatikanische Konzil hat es so formuliert: „Die politische Gemeinschaft und die Kirche sind auf je ihrem Gebiet voneinander unabhängig und autonom“ (Gaudium et Spes, 76). Das heißt nicht, dass in der Predigt nicht auch aktuelle Ereignisse und politische Themen aufgenommen werden können. Die Veränderungen und die Unübersichtlichkeit der modernen Welt, die Konflikte, die wir allerorten erleben müssen und die schrecklichen Anschläge der letzten Zeit beschäftigen und verunsichern viele Menschen. Die damit verbundenen Sorgen und Ängste dürfen sich in einer Predigt durchaus widerspiegeln und im Licht des Glaubens gedeutet werden. Maßstab dafür können Tugenden oder Prinzipien sein, wie sie etwa in der katholischen Soziallehre zum Ausdruck kommen. Die Würde und die Freiheit der Person, das Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität sind ein Orientierungsrahmen für das Politische, und darauf kann eine gute Predigt Bezug nehmen und ethische Orientierung geben. Aber politische Stellungnahmen oder gar konkrete Handlungsanweisungen sollen daraus in einer Predigt nicht abgeleitet werden. Politische Fragen sind oft viel zu komplex, und der Gottesdienst ist kein Ort für politische Positionierung. Dazu sind vielmehr die sachkundigen Laien berufen, in der Politik oder auch in den kirchlichen Gremien wie dem Diözesanrat.

Wie lässt sich das grundlegende Verhältnis von Politik und Kirche entspannen und zeitgemäß produktiv gestalten?

Die etwas gereizten Töne der letzten Zeit sollten nicht den Eindruck entstehen lassen, dass das Verhältnis von Politik und Religion angespannt sei. Das Verhältnis von Staat und Kirchen ist in Deutschland und insbesondere im Freistaat Bayern vielmehr von Partnerschaft und guter Zusammenarbeit geprägt. Zwar gilt in der Ordnung des Grundgesetzes eine Trennung von Staat und Kirche, aber diese Trennung ist, anders als etwa in Frankreich, nicht streng laizistisch, sondern grundsätzlich religionsfreundlich angelegt. Staat und Kirchen kooperieren miteinander, und beide Seiten profitieren davon. Der Staat erlaubt den Kirchen beispielsweise Religionsunterricht in öffentlichen Schulen, er trägt die Baulast von vielen Kirchengebäuden, er zieht die Kirchensteuer ein und zahlt die sogenannten Staatsleistungen. Meine eigene Hochschule, die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, ist das beste Beispiel dafür, wie stark sich etwa der Freistaat Bayern finanziell für kirchliche Institutionen einsetzt. Umgekehrt profitiert die Politik auch erheblich von den Kirchen z.B. wenn diese sich umfangreich im sozial-karitativen Bereich oder in der Bildung betätigen. Vor allem aber lebt der Staat, wie der frühere Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde einmal gesagt hat, von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Hierfür können die christlichen Kirchen mit ihrer ethischen Kraft einen wichtigen Beitrag leisten.

Es ist davon auszugehen, dass dieses bislang praktizierte Verhältnis von Staat und Kirche in einer Zeit, in der die Zahl der Gläubigen immer weiter zurückgeht, in Zukunft nicht mehr allgemein akzeptiert werden wird. Die Forderungen nach einem Ende der Staatsleistungen an die Kirche oder gar nach einer Abschaffung der Kirchensteuer werden erwartbar zunehmen. Inzwischen gehört nicht einmal mehr die Hälfte der deutschen Bevölkerung einer der beiden großen Kirchen an, und deshalb muss auch das Verhältnis von Staat und Kirche weiterentwickelt werden. In den dabei zu führenden Debatten werden wir aus vielen Gründen darauf verweisen können, dass die Kirchen mit ihrem Dienst in der Welt und ihrem ethischen Fundament etwas Wesentliches für die Gesellschaft im Ganzen leisten. Es liegt daher im legitimen Eigeninteresse des demokratischen Verfassungsstaats, in Zukunft vielleicht in veränderter Form, aber im Grundsatz weiterhin an einer guten Kooperation mit den christlichen Kirchen festzuhalten.

Die Fragen stellte: Michael Heberling

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Zur Person: Prof. Dr. Klaus Stüwe, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft
Vizepräsident für Internationales und Profilentwicklung der KU
Berater der Kommissionen VI und XI der Deutschen Bischofskonferenz
Mitglied im Landeskomitee der Katholiken in Bayern
Mitglied des Diözesanrats der Katholiken im Bistum Eichstätt

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