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20.12.2022

Mit Zorn und Zärtlichkeit an der Seite der Menschen

Foto: Andrea Schödl/Caritas

Die 14 Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Caritas besuchten unter anderem die Quilombola-Gemeinschaft „Bom Remédio“. Foto: Andrea Schödl/Caritas

Eichstätt/Belém – Kampf gegen sexualisierte Gewalt und mutiges Engagement gegen Großprojekte: Tief beeindruckt und emotional berührt zeigten sich die elf Teilnehmenden der Dialogreise nach Brasilien, zu der das deutsche Hilfswerk Caritas international Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Caritas eingeladen hatte. Darunter waren Direktoren, Vorstände, Geschäftsführer und ein Universitätsprofessor. Als Vertreterin des Caritasverbandes für die Diözese Eichstätt und Pressereferentin der Reise nahm Dr. Andrea Schödl aus Eichstätt teil.

Geografisches Ziel der Studienfahrt war die Region Ost-Amazonien im Norden Brasiliens mit der Stadt Belém als Ausgangspunkt. Im Zentrum des Bildungsprogramms standen zwei Projekte, die gemeinsam von Caritas international und der Regionalstelle Norden 2 der Caritas Brasilien umgesetzt werden: „Iça“ und das Globalprogramm. Beide werden mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung finanziert.

Voneinander lernen

„Wir nennen diese Fahrten von deutschen Caritas-Verantwortlichen in unsere Partnerländer Dialogreisen, weil sie das Gespräch und den gegenseitigen Austausch fördern sollen“, erklärt Dr. Oliver Müller, Leiter von Caritas international. „Beide Seiten können voneinander lernen“. In diesem Sinne hatten Referatsleiter Claudio Moser und Länderreferent Manuel Brettschneider gemeinsam mit ihren brasilianischen Kolleginnen ein anspruchsvolles und abwechslungsreiches Programm erarbeitet. Dieses führte die Teilnehmenden mit Kleinbooten und Bussen zu traditionellen Lebensgemeinschaften und Projektgruppen nach Abaetetuba und Abacatal. Trotz der Sprachbarriere kam es zu intensiven Momenten der Begegnung zwischen den Menschen aus Deutschland und Brasilien. Die beiden Lateinamerika-Spezialisten, Moser und Brettschneider, fungierten dabei als fachkundige Referenten und verständige Dolmetscher.

Gegen sexualisierte Gewalt

In der Projektgemeinschaft „Tucumanduba“ in Abaetetuba erwartete die deutschen Teilnehmer eine engagierte Gruppe von Kindern und Jugendlichen, koordiniert durch Verantwortliche aus der Pfarrei. Mit Gebet, Gesang und starken Argumenten vermittelten sie, warum sie sich für das Projekt „Iça“ zur Bekämpfung von sexueller Ausbeutung, Missbrauch und Handel von Kindern und Jugendlichen stark machen. „Viele Kinder kennen ihre Rechte nicht“, erzählt Jessica, die heute 21 Jahre alt ist und seit rund sechs Jahren im Projekt mitarbeitet. Kinder wissen nicht, was sexualisierte Gewalt ist und wie sie sich dagegen wehren können. „Erst das Projekt hat das Bewusstsein dafür geschaffen.“ Deshalb werden inzwischen immer mehr Fälle zur Anzeige gebracht. Ein Mädchen erzählt, wie sie und ihre Freundinnen die Übergriffe eines Bootsführers dokumentiert haben, um ihn anzeigen zu können. Besonders wirksam sei die Arbeit in den Schulen, sagt Jessica. „Wir reden in der Sprache der Kinder und können so ihr Vertrauen gewinnen.“ Die jugendlichen Freiwilligen gehen in den Unterricht, arbeiten mit Videos und lehren Lieder und Tänze. Die Texte sollen den Kindern Mut geben, aber auch die nötigen Informationen, wohin sie sich wenden können, wenn sie betroffen sind. Auch während der Pandemie, als Hunger, Armut und Isolation die Situation der Kinder auf den 72 Inseln, die Teil von Abaetetuba sind, verschärft haben, gaben die Freiwilligen ihr Engagement nicht auf. „Besetzung der Flüsse“ nannten sie die Aktion, bei der sie gleichzeitig mit vielen Kleinbooten und Lautsprechern die isolierten Familien zur Problematik sensibilisierten. Das Projekt „Iça“ begann im Jahr 2015 auf Pfarreiebene in Abaetetuba und besteht heute aus 300 Ehrenamtlichen. Viele davon sind unter 20 Jahre alt. Neben Abaetetuba wird das Projekt in weiteren 24 Gemeinden, die auf die Bundesstaaten Amazonas, Amapá, Bahia, Pará, Sergipe verteilt sind, umgesetzt.

In der Projektgemeinschaft „Tucumanduba“ in Abaetetuba erwartete die deutschen Teilnehmer eine engagierte Gruppe von Kindern und Jugendlichen, koordiniert durch Verantwortliche aus der Pfarrei. Mit Gebet, Gesang und starken Argumenten vermittelten sie, warum sie sich für das Projekt „Iça“ zur Bekämpfung von sexueller Ausbeutung, Missbrauch und Handel von Kindern und Jugendlichen stark machen. Foto: Andrea Schödl/Caritas

Landrechte und Klimaschutz

Das Globalprogramm war der zweite Themenschwerpunkt der Dialogreise. Es wird nicht nur im Norden und Nordosten Brasiliens umgesetzt, sondern auch in Kolumbien und Honduras. So erreicht es insgesamt 74 ländliche Gemeinschaften. „Hier eint uns die Sorge um das Weltklima, weil die Zerstörung des Regenwaldes schon so weit vorangeschritten ist“, erklärt Claudio Moser. An zwei Tagen war die deutsche Reisegruppe bei den Quilombola-Gemeinschaften „Bom Remedio“ in Abaetetuba und „Abacatal“ im Großraum von Belém eingeladen. „Wir sind niemand“, dieses Gefühl empfindet Rosicleia Silva Ferreira, deren Landrechte und traditionelle Lebensweise durch ein Hafen-Großprojekt eines internationalen Unternehmens bedroht ist. Die 45-jährige Afrobrasilianierin lebt mit ihrer Familie vom Fischfang und dem Anbau traditioneller Nahrungsmittel. „Mit dieser Lebens- und Produktionsform, die auf Vielfalt setzt und im Einklang mit der empfindlichen Vegetation des Regenwaldes steht, leisten die Gemeinschaften einen wichtigen Beitrag zum Schutz des Regenwaldes“, erläutert Manuel Brettschneider. „Der Wald bindet enorme Mengen an Kohlenstoff, das ist entscheidend für das Weltklima.“

„Wir sind niemand“, dieses Gefühl empfindet Rosicleia Silva Ferreira, deren Landrechte und traditionelle Lebensweise durch ein Hafen-Großprojekt eines internationalen Unternehmens bedroht ist. Sie zeigt den Vertretern der deutschen Caritas, wo der Hafen geplant ist. Foto: Andrea Schödl/Caritas

„Die Behörden unterstützen uns ‚null‘“, sagt Natalina Silva Ferreira, die in unmittelbarer Nähe zum Hafenprojekt wohnt. „Weniger als null“, korrigiert sie sich, denn die großen Firmen würden durch schnelle Genehmigungsverfahren politisch unterstützt. Dabei sieht die brasilianische Verfassung vor, dass die indigenen Völker und traditionellen Lebensgemeinschaften in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden und diesen zustimmen müssen, die ihr Land und ihre Lebensweise betreffen. Die Einheimischen dagegen erfahren von Projekten oft erst, wenn Bagger anrücken und Zäune errichtet werden. So war es auch in „Abacatal“. Das Gebiet gehört einer Quilombola-Gemeinschaft, die seit 1710 dort wohnt. Nun soll ihr Land durch eine Stromtrasse zerschnitten werden.
Alles stehe unter dem Deckmantel des Fortschritts, doch die Bevölkerung profitiert wenig von der neu entstehenden Infrastruktur, meint Johny Giffoni, Rechtsanwalt der bundesstaatlichen Ombudsstelle und Menschen- und Umweltrechtsaktivist. „Die großen Infrastrukturprojekte dienen den großen Unternehmen und dem Export.“ Das gelte auch für die Minen oder Abholzung: billiges Metall, Soja oder Fleisch für den Weltmarkt.

Beeindruckender Mut

Die Vertreter der deutschen Caritas zeigten sich beeindruckt von der zukunftsbejahenden Sicht der traditionellen Lebensgemeinschaften. Trotz eines scheinbar aussichtslosen Kampfes gehen sie mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten gegen die Konzerne vor. „Wir befinden uns im Kampf“, sagt Natalina, „wir kämpfen, solange wir den Glauben und das Leben nicht verlieren.“ Mit dem Globalprogramm erhalten sie Unterstützung von nationalen und internationalen Partnern. Politiker, Stadträte, Juristen oder Staatsanwälte stellen sich mit ihrer Expertise ebenso auf die Seite der traditionellen Lebensgemeinschaften wie internationale Verbände, etwa die deutsche Caritas. „Wenn wir an unsere Grenzen stoßen“, sagt Maria Ivanilde Silva, die Geschäftsführerin der Caritas Norte 2, „dann können wir Kraft schöpfen, weil wir wissen, dass wir ein internationales Netzwerk haben.“

Beim Blick aus den Busfenstern kann die deutsche Delegation den rücksichtlosen Raubbau an der Natur selbst beobachten. Rund um das gut gepflegte Landstück „Abacatal“ haben Bulldozer scheinbar planlos tiefe Furchen im roten Sand hinterlassen. Irgendwo steht noch ein Baum auf einer kleinen Insel mitten in den Verwüstungen. Seine Wurzeln ragen aus der Abrisskante und er strahlt dennoch unglaublichen Überlebenswillen aus: so wie die Menschen aus „Abacatal“, „Bom Remédio“ und anderen traditionellen und indigenen Lebensgemeinschaften, die die Deutschen auf der Dialogreise kennenlernen durften. Mit ihrem Mut haben sie nicht nur den vorläufigen Baustopp der Großprojekte erreicht, sondern auch, dass ihre Stimme gehört wird. Für Caritas international sind auch kleine Erfolge ein Ansporn: „Wir wollen mit Zorn und Zärtlichkeit an der Seite der Menschen sein“, bekräftigt Dr. Oliver Müller ein nachhaltiges Engagement in der Region.

Gespräch mit Cimi und indigenen Führungskräften: Bewãri Tembé, Haroldo do Espirito Santo, (Koordinator Cimi), Eliezio Santos (Instituto Viróri Régia), Zenilda Bentes Kumaruara und der Leiter von Caritas international Oliver Müller. Foto: Andrea Schödl/Caritas

Text und Fotos: Andrea Schödl

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