Mit gemischten Gefühlen blickt die christliche Minderheit in Syrien nach dem Ende der Assad-Diktatur auf die neue Regierung in Damaskus. Das Oberhaut der mit Rom unierten syrisch-katholischen Kirche, Patriarch Ignatius Youssef III. Younan, erwartet von den neuen Machthabern einen Wandel hin zur Demokratie, Rechtstaatlichkeit und mehr Sicherheit für religiöse und ethnische Minderheiten. Patriarch Younan pfleget seit vielen Jahren engen Kontakt mit der Diözese Eichstätt, insbesondere mit dem ostkirchlichen Priesterseminar Collegium Orientale. „Für Christen ist die Rückkehr der jungen Menschen nach Syrien entscheidend für unsere Zukunft“, sagt er im Interview.
Herr Patriarch, wie haben Sie den Sturz des Assad-Regimes erlebt?
Patriarch Ignatius Youssef III. Younan: Wir waren sehr überrascht über die schnelle Eroberung von Aleppo durch die HTS, bekannt unter dem Namen Al-Nasrah, und die mit dem sogenannten Islamischen Staat (ISIS auch DAESH genannt) verbündeten Rebellen.
Hätten Sie es für möglich gehalten, dass sich die politische Lage so schnell ändern könnte? Gab es Anzeichen dafür?
Wir hatten einen ernsthaften Dialog zwischen der bisherigen syrischen Regierung und der Opposition erwartet und erhofft. Dieser ist jedoch unerreichbar geworden, vor allem weil die regionalen und internationalen Mächte ihre geopolitische Agenda verfolgt haben und wegen der Angst vor dem radikalen Islam.
Was geht Ihnen angesichts der neuen Regierung durch den Kopf, wie ist die Stimmung in Ihrem Bekannten- und Freundeskreis?
Noch ist alles in der Schwebe. Die neuen Machthaber versuchen die Bevölkerung zu beruhigen, sie davon zu überzeugen, sie seien Revolutionäre für einen Regimewechsel hin zu einem demokratischen und zivilen Regierungssystem. Sie erklären, sie seien nicht aus Rache gekommen und alle Bürger, unabhängig von ihrer Religion und Konfession, würden geschützt.
Was halten Sie von den neuen Machthabern?
Es herrscht echte Angst wegen der Vergangenheit der neuen Machthaber. Wir hoffen, dass der Regierungswechsel den Minderheiten mehr Sicherheit bringen wird.
Was bedeutet die neue Regierung für die Religionen in Syrien, insbesondere für die syrisch-katholische Kirche?
Die Machthaber gehören dem salafistischen Glauben, dem radikalen Islam an. Aber das Wichtigste ist, dass die Religions- und Gewissensfreiheit für alle Bürger garantiert wird, wie sie jetzt versprechen. Syrien ist ein Land mit verschiedenen Minderheiten, die alle respektiert werden müssen.
Glauben Sie, dass viele Syrer, die vor dem Krieg geflohen sind, jetzt in ihre Heimat zurückkehren werden?
Tatsächlich hoffen wir, dass die syrischen Bürger, die gezwungen waren, ihr Land zu verlassen, zurückkehren werden. Für uns Christen ist die Rückkehr der jungen Menschen entscheidend für unsere Zukunft. Dies wird möglich sein, weil die neuen Machthaber sämtliche Strafen auf Wehrdienstverweigerer abgewälzt haben.
„Für uns Christen ist die Rückkehr der jungen Menschen entscheidend für unsere Zukunft.“ (Patriarch Ignatius Youssef III. Younan)
Die neuen Machthaber lassen viele Fragen offen. Wie sehen Sie die Zukunftsperspektiven Ihres Landes?
Noch ist es zu früh, um über die Zukunft zu urteilen. Alles hängt davon ab, ob die bereits gemachten Versprechen der neuen Machthaber vor Ort umgesetzt werden können.
Bei einem Besuch in Eichstätt im Jahr 2015 sagten Sie, die deutsche Bundesregierung sollte sich nicht auf die Aufnahme von Flüchtlingen beschränken, sondern mit allen Beteiligten an einer Versöhnung der Konfliktparteien arbeiten. Wird diese Versöhnungsarbeit auch weiterhin eine wichtige Aufgabe sein?
Obwohl sehr schwierig, sollte die Versöhnung möglich sein, wenn die Menschen in der Region bereit sind, Religion, in diesem Fall den Islam, und Staat zu trennen, sei es in der Verfassung oder in ihrer Anwendung. Auch müssen diejenigen, die sich im Konflikt befinden, auf Rache verzichten und den religiösen Glauben aller Bürger respektieren.
Was muss passieren, damit Syrien nach dem Fall der Assad-Diktatur ein friedliches und stabiles Land, vielleicht sogar eine Demokratie wird?
Alles hängt davon ab, eines zivilisierten Regierungssystems zu verstehen und aufrechtzuerhalten, dass auf den Institutionen und der Trennung von Legislative, Exekutive und Judikative basiert. Die Nichteinmischung externer Mächte in ein multireligiöses, konfessionelles und ethnisches Land wie Syrien ist sehr wichtig für seine Einheit und Entwicklung.
Die Fragen stellte Geraldo Hoffmann
Integrationsberater: Freude und Sorgen bei Menschen aus Syrien