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Wie konnte so etwas nur geschehen?

Diese Frage hört Schwester Elinor Grimm bei Führungen in der KZ-Gedenkstätte Dachau oft

Die erste Begegnung von Schwester Elinor Grimm mit der KZ-Gedenkstätte Dachau liegt 40 Jahre zurück. Die damals 18-Jährige war Mitglied der Schönstatt-Jugend der Diözese Würzburg und nahm an einer Fahrt zum ehemaligen Konzentrationslager teil. „Wenn ich mich nicht täusche, war es an einem 6. April“, erinnert sich die Ordensfrau an das Datum, das bei Schönstatt-Mitgliedern besondere Bedeutung hat: Am 6. April 1945 kam der Gründer der geistlichen Bewegung, Pater Josef Kentenich, nach mehr als dreijähriger  Haft aus dem KZ Dachau frei. Viele Male hat Schwester Elinor vom Schönstattzentrum beim Canisiushof in Kösching diesen Teil von Kentenichs Lebensgeschichte seither erzählt. Die heute 58-Jährige ist, als derzeit einzige Vertreterin der Schönstattbewegung, seit 2009 Dachau-Referentin und besitzt die offizielle Erlaubnis, Führungen oder Seminare zu halten. Über ihr Spezialgebiet „Geistliche im KZ Dachau“ spricht sie auch immer wieder in Pfarr-
gemeinden oder vor Schönstattgruppen.

Spezielle Ausbildung

Ein besonderer Anlass, sich näher mit der Gedächtnisstätte auseinanderzusetzen, bot sich für Schwester Elinor im Jahr 2005, als der Weltjugendtag in Deutschland stattfand. Viele Jugendliche aus dem Ausland, die der Schönstattbewegung verbunden waren, wollten dabei auch nach Dachau fahren und fragten an, „ob wir etwas machen können“, erinnert sich Schwester Elinor. Als sie dafür die Zustimmung der pädagogischen Abteilung der KZ-Gedenkstätte einholte, erfuhr sie, dass es einen eigenen Ausbildungskurs zur Führung und Begleitung von Gruppen gab.

Weil die Nachfrage aber sehr groß war, reihte sie sich zunächst einmal in die Warteschleife ein und fuhr unterdessen zu einer deutschlandweiten ökumenischen Tagung über religiöse Arbeit an Gedenkstätten nach Ravensbrück, wo sich von 1939 bis 1945 ein Frauenkonzentrationslager befand. Dass sie bald darauf auch in die Ausbildung zur Dachau-Referentin aufgenommen wurde, „war für mich ein Geschenk“, sagt die Ordensfrau. Der Kurs, an dem unter anderem auch ein Pastoralreferent und ein Benediktinerpater teilnahmen, erstreckte sich über rund ein halbes Jahr und beinhaltete Schulungen an fast jedem Wochenende. Zusätzlich nutzte Schwester Elinor, eine gelernte Krankenschwester, ihre Ferien, um sich in die Thematik einzulesen.

Inzwischen, so schätzt sie, hat sie mehr als 100 Führungen durch die Gedenkstätte gehalten. Manchmal ist sie jede Woche im Einsatz, manchmal zweimal pro Monat. Schulklassen gehören ebenso zu ihren Zuhörern wie kirchliche Gruppen, die sich auch direkt bei ihr anmelden. Eine Führung dauert zwischen zweieinhalb und drei Stunden. Daneben bietet die Bildungsabteilung der Gedenkstätte mittlerweile auch halb- oder ganztätige Seminare für Gruppen an. Die Gedenkstätte, die vor einigen Jahren – auch auf Wunsch von Überlebenden – konzeptionell umgestaltet worden ist, präsentiere sich heute „völlig anders als vor 20 Jahren“, so Schwester Elinor, „sie hat sich sehr profiliert in den letzten Jahren“. Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche machten vor Ort Bildungsangebote, teils auch in ökumenischer Zusammenarbeit.

Unter den Referentinnen und Referenten seien auch Nachkommen und Verwandte von einstigen KZ-Häftlingen, weiß Schwester Elinor, die zu den Kolleginnen und Kollegen ein gutes Verhältnis pflegt, quer durch die Konfessionen, Religionen und Weltanschauungen. Was sie besonders freut: Obwohl sie ihre Führungen in Ordenstracht hält, habe sie noch nie negative, kirchenkritische Bemerkungen zu hören bekommen.

Regelmäßig nimmt die Schönstatt-Schwester an den Fortbildungen für Dachau-Referenten teil und entdeckt immer wieder Neues. Bei der ersten Führung nach ihrer Prüfung begleitete sie eine Abiturklasse, „die sehr gut mitmachte“. Unter anderem entdeckten die Jugendlichen ein Bild und stellten der Referentin Fragen dazu. „Vorher war mir dieses Bild noch nicht bewusst aufgefallen“, sagt sie. „Seitdem bedeutet es mir viel“. Das Gemälde stammt von dem jüdischen Maler David Ludwig Bloch, der im Zuge der Reichsprogromnacht 1938 für mehrere Wochen ins KZ Dachau kam und als Taubstummer besonders gefährdet war. Nach seiner Entlassung gelang es ihm 1940, nach Shanghai zu emigrieren.

Später ging er in die USA, wo er die Erinnerung an den Holocaust wach hielt. „Man weiß nicht, ob Bloch gläubig war“, meint Schwester Elinor. „Er war jedenfalls trotz der Taubheit und dem Schicksal, früh ein Waisenkind zu sein, ein lebensbejahender, froher Mensch.“

Kürzlich hat Schwester Elinor einer älteren Dame gezeigt, wo sich die Rollstuhlrampe befindet. Später erfuhr sie, dass es sich um die Tochter eines KZ-Opfers handelte. Neun Jahre war sie alt gewesen, als ihr Vater in Dachau starb. Um seinen Todestag zu begehen, waren nun die Hinterbliebenen aus dem Burgenland angereist. Jugendlichen stehe oft Ratlosigkeit in den Augen, „wenn sie dieses ganze Ausmaß sehen“, berichtet Schwester Elinor. Wie konnte so etwas nur möglich sein? Diese vollkommene Entwürdigung des Menschen? Die Referentin regt ihre Zuhörer dann manchmal zum kritischen Nachdenken an: „Wo fängt es an? Wo sehe ich auf andere herab, die vielleicht weniger intelligent sind als ich oder eine Behinderung haben?“. Immer wieder erzählt die Ordensfrau aber auch von Menschen wie Schwester Imma Maria Mack aus Möckenlohe, die unter Lebensgefahr liturgische Gegenstände ins KZ schmuggelte. Von selbstlosen Priestern wie Karl Leisner oder Pater Engelmar Unzeitig, die anderen halfen und selbst an den Folgen der KZ-Haft starben. Oder eben von Schönstatt-Gründer Pater Kentenich, der in Dachau anderen Menschen Halt durch den Glauben gab. „Selbst in dieser Hölle war Christus da“, sagt Schwester Elinor. „So unbegreiflich das auch sein mag!“

Gabi Gess, Kirchenzeitung Nr. 4 vom 26. Januar 2014