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Vielschichtige Herausforderungen

ZIMOS-Tagung zur „Kirche im Sozialismus“ mit Beiträgen über drei Länder und Konfessionen

Für alle europäischen Länder, in denen zu unterschiedlichen Zeitpunkten im 20. Jahrhundert kommunistische Regierungen an die Macht kamen, gestalteten sich die politischen Konsequenzen für Gläubige und eine freie Ausübung von Religiösität sehr ähnlich: die Machthaber versuchten, Konfessionsgemeinschaften jeder Art zu zerschlagen oder gleichzuschalten und erklärten Religion für ein Relikt längst überwundener finsterer Epochen, für ein Weltbild, das nicht zukunftsfähig war. Die Realitäten in den sozialistischen Ländern Europas stellten sich aber in Wirklichkeit ganz anders dar: Religiöse Weltbilder erlebten oftmals eine für die Verfechter des dogmatischen Marxismus völlig unerwartete Renaissance.

Kirche im Sozialismus

Eine zweitägige Konferenz des Zentralinstituts für Mittel- und Osteuropastudien (ZIMOS) von der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt beschäftigte sich mit den einzelnen Entwicklungsphasen dieser religiösen Renaissance, die wesentlich zur Erosion der kommunistischen Gesinnungsdiktatur beitrug. Anlässlich des 25. Jahrestages des „Völkerfrühlings“ im europäischen Osten fand gemeinsam mit dem Hannah Arendt-Institut und mit Unterstützung des Katholischen Hilfswerks für Osteuropa Renovabis, des diözesanen Referats Weltkirche und der Universitätsgesellschaft eine internationale und interdisziplinäre Tagung zum Thema „Die Kirchen im Sozialismus am Beispiel Russlands, Polens und der DDR: Von der bolschewistischen bis zu den friedlichen Revolutionen“ statt. Schnell wurde deutlich: Bei allen Ähnlichkeiten der Vorgehensweise kommunistischer Machthaber bei der Verfolgung und Zerschlagung kirchlichen Einflusses gab es, und gibt es bis heute, große Unterschiede in der Entwicklung der Situation der Kirche. Beiträge zu Russland, Polen und zur evangelischen Kirche in der DDR und den neuen Bundesländern waren hier Schwerpunkte der Tagung.

Über die russisch-orthodoxe Kirche nach 1917 sprachen zwei Moskauer Professoren. Die Situation unter Lenin und Stalin beleuchtete Prof. Dr. Aleksandr Mazyrin, während „Der orthodoxe Dissens und die religiöse Renaissance in Russland in der Zeit der Stagnation und während der Perestroika“ Thema von Prof. Vladimir Kantor war.

Zu langsame Anpassung

Zur Sektion „Der Polnische Katholizismus nach 1945“ sprachen der Eichstätter Professor Dr. Leonid Luks, Prof. Dr. Janusz Surzykiewicz (Eichstätt/Warschau), Gunther Dehnert (Berlin/Eichstätt) und Pater Adam Boniecki aus Krakau. Der 1934 in Warschau geborene renommierte Priester des Marianer- Ordens und Journalist war einer der prominentesten Referenten der Eichstätter ZIMOS-Tagung.

Eher ernüchternd leitete Boniecki seinen Vortrag zur Situation der Kirche im postkommunistischen Polen mit den Worten ein: „Die polnische Kirche sucht keine neue Identität, sie muss dies auch nicht tun. Denn sie fühlt sich in der gegenwärtigen Lage eigentlich sehr wohl.“ Die Kirche habe sich inzwischen einen eigenen, wenngleich umstrittenen Platz in der polnischen Gesellschaft erobert, so Boniecki. Doch zugleich habe sie heute große Probleme mit ihrer Anwesenheit in einer freien Gesellschaft. Seiner Meinung nach vollziehe sich der Anpassungsprozess der Kirche an die neuen sozialen und politischen Gegebenheiten viel zu langsam. Boniecki sieht durchaus viele düstere „Zeichen der Zeit“: Es lasse sich eine sinkende Religiösität beobachten, die allein auf traditionellen Motiven beruht: „Die junge Generation steht dem Glauben sehr kritisch gegenüber“, so Boniecki, „die Mehrheit, vor allem in den Großstädten, versteht die Standpunkte und Gebote der katholischen Kirche, vor allem in Bezug auf Zusammenleben, Verhütungsmittel und künstliche Befruchtung, nicht.“ Die Zahl der Scheidungen steige rapide an, die Zahl der kirchlichen Trauungen sinke enorm. Dennoch würden 90 Prozent die Anwesenheit der katholischen Kirche in der Gesellschaft akzeptieren – in ihrer Rolle als Ratgeber und seelsorgerisch-karitativ aktive Institution. Boniecki sieht in dieser stagnierenden Rolle der Kirche in Polen wenig Zukunft. Sein Fazit: „Es überwiegt die Angst vor Veränderung. Viele Themen der Kirche sind für die Mehrheit der katholischen Bevölkerung nicht nachvollziehbar und nicht verständlich. Es muss eine neue Sprache der Kirche an ihre Gläubigen geschaffen werden.“

Entchristlichung

In einer wiederum ganz anderen Situation befindet sich dem gegenüber die evangelische Kirche in den neuen Bundesländern, der sich zum Abschluss der Tagung zwei Referenten widmeten, die auch die spezifische historische Situation der vormaligen DDR beleuchteten. Dabei stellte der Historiker und Totalitarismusexperte Prof. Dr. Clemens Vollnhals (TU Dresden), die ambivalente Rolle der evangelischen Kirche in der DDR heraus, die zu einer Art Gratwanderung zwischen zwei extremen Positionen gezwungen war: Einerseits musste sie, um im gleichgeschaltetenSED-Staat überleben zu können, die Staatsform der DDR offiziell akzeptieren, andererseits konnte sie sich von ihrem christlich-lutherischen Dogma her nicht zur marxistischen Weltanschauung bekennen, die dem Regime zugrunde lag.

Der Erfurter Professor Dr. Eberhard Tiefensee sprach abschließend als Kenner der DDR über die dauerhafte „Entchristlichung“ in den neuen Bundesländern und machte eine ernüchternde Bestandsaufnahme: Die evangelische Kirche spiele in den neuen Bundesländern heute kaum noch eine Rolle, mehr als drei Viertel der Bürger seien konfessionslos. In Berlin gebe es nur noch etwa ein Prozent aktive Christen, was Tiefensee zu der Aussage brachte, dass Berlin vermutlich die „atheistischste, religiös indifferenteste Hauptstadt der Welt“ sei.

Im Rückblick zog Prof. Dr. Leonid Luks ein positives Fazit: „Ich bin sehr zufrieden mit dem Verlauf der Tagung und dass wir zu unserem Anliegen, drei Länder und drei Konfessionen zu untersuchen, sehr aufschlussreiche Vorträge hatten.“                                   

Dagmar Kusche/fla, Kirchenzeitung Nr. 20 vom 18. Mai 2014