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Oleander statt Tannenzweige

Agnes Birzer feiert Weihnachten in der Millionenstadt Santiago de Chile

Im August stieg Agnes Birzer in den Flieger und begann ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Hauptstadt Chiles, in Santiago. Die 17-Jährige aus Pietenfeld arbeitet im Kindergarten „Naciente“ der „Fundación Cristo Vive“ von Schwester Karoline Meyer. Zum ersten Mal wird sie heuer das Weihnachtsfest ohne ihre Eltern feiern.

„Hier am anderen Ende der Welt erlebe ich die Adventszeit und Weihnachten einmal ganz anders. Der wohl offensichtlichste Grund ist der durch 35 Grad und Sonnenschein ersetzte Schnee. Das ist gerade jetzt in der Adventszeit ziemlich verrückt, wenn man zum Beispiel im Kindergarten Weihnachtslieder singt, die Adventskalendergeschichte vorliest oder Weihnachtsdeko bastelt und dabei schwitzt. Oder wenn man im T-Shirt durch die Straßen läuft und an den Laternenpfählen leuchtende und blinkende Kitschsterne und Weihnachtsmänner hängen sieht.

Um uns aber trotzdem auf die Weihnachtszeit einzustimmen haben wir in der Wohngemeinschaft, in der ich lebe, einen Adventskranz gebastelt. Da es hier keine Tannenzweige oder ähnliches gibt, haben wir uns mit Oleanderzweigen beholfen. In der Kirche von Karolines Gemeinde wurde – genau wie bei mir zu Hause in Pietenfeld bestimmt auch – am ersten Advent eine Kerze angezündet. Mit dem Unterschied, dass in Chile die Adventskränze aus einer bunten Mischung von Frühlingsblumen geflochten werden und „Corona de Adviento“ heißen, was übersetzt Adventskrone bedeutet, und dass kein „Wir sagen euch an den lieben Advent“ gesungen wird.

Andere weihnachtliche Stimmung, wie zum Beispiel Adventsmärkte oder Weihnachtsfeiern diverser Vereine, wie ich es aus meinem Heimatdorf Pietenfeld kenne, gibt es hier natürlich nicht. Für Glühwein ist es ja auch viel zu heiß. Auch Adventskalender kennen die chilenischen Kinder nicht. Deshalb habe ich in meiner Kindergartengruppe einen aufgehängt und den Kindern erklärt, wie das mit den 24 Säckchen funktioniert. Zu Hause ist es Tradition jeden Tag eine Adventskalendergeschichte zu lesen und dazu ein Plakat oder ein Fensterbild zu gestalten. So einen habe ich von meiner Mama geschickt bekommen, habe ihn ins Spanische übersetzt und lese ihn nun mit meinen chilenischen Kindergartenkindern.

Da ich hier unter den Armen lebe und arbeite, und wir auch im Kindergarten mit den Kindern immer wieder darüber sprechen, dass das Wichtigste an Weihnachten nicht die Geschenke, sondern das Zusammensein mit der Familie und den Freunden ist, wird mir jetzt in der Vorweihnachtszeit, die in Deutschland oft aus hektischem Geschenke kaufen besteht, bewusst, wie konsumgesteuert unser Denken doch oft ist.

Die Kinder in dem Randviertel Recoleta haben genau wie die Kinder in Deutschland auch Weihnachtswünsche. Doch hier ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese erfüllen, viel geringer, weil es oft schon an den alltäglichen Dingen scheitert und deshalb zusätzliche Wünsche zurückgesteckt werden müssen.

Deshalb finde ich es nicht schlimm, dieses Jahr Weihnachten ohne einen Christbaum zu feiern, unter dem sich Geschenke stapeln. Was mir eher etwas schwerer fällt, ist ein Weihnachten ohne Familie und ohne den alljährlichen „Weihnachtsritus“, wie zum Beispiel den Christbaum schmücken, die Krippe aufbauen, in der Christmette singen und Trompete spielen, am Weihnachtsfeiertag Weihnachtsgans bei der Oma essen, ...

Aber andererseits freue ich mich auch, jetzt in der Adventszeit keine Blaskapellenauftritte auf diversen Weihnachtsmärkten zu haben, sondern dafür mit meinen Mitbewohnerinnen einen gemütlichen Weihnachtsabend unter unserer kleinen Palme im Patio zu verbringen und die Weihnachtsmesse hier in der Kirche gemeinsam mit Schwester Karoline und den Leuten aus der Siedlung zu erleben. Wie das sein wird, darauf bin ich schon sehr gespannt.“

Agnes Birzer, Kirchenzeitung Nr. 51/52 vom 21. Dezember 2014