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Literarische Erinnerungen

Mit Demenz-Poesie-Sessions gegen das Vergessen

Schläft ein Lied in allen Dingen ...“, „Geh aus mein Herz ...“, Von drauß vom Walde komm
ich her ...“, Eichendorf, Gerhard, Fontane, einerlei – wer diese Texte einmal kannte, kennt sie bis ins hohe Alter. Selbst an Demenz Erkrankte, die schon kognitive Fähigkeiten verloren haben, erinnern sich an Texte und Melodien, die sie in jungen Jahren erlernten: Das Langzeitgedächtnis stirbt zuletzt, weiß die Wissenschaft. Sogar aus Aphasikern, die ihre Sprachfähigkeit verloren haben, „kann man etwas herauskitzeln“ haben Pauline Füg, Diplompsychologin, und Henrikje Stanz, Diplompädagogin, festgestellt. Sie bieten in Altenheimen und auf Pflegestationen sogenannte Demenz-Poesie-Sessions an. Auf lebendige Weise, durchaus mit Körpereinsatz, tragen sie an Demenz Erkrankten Gedichte vor, die diese in ihrer Kindheit gelernt haben mögen, lesen Texte, die zum Sprechen, Mitsprechen, Singen, zur Bewegung animieren.

Therapieform etablieren

Alzheimerforscher sagen: Vorlesen hält das Gehirn lebendig, die Patienten verlieren den Bezug zur Realität und ihren Orientierungssinn nicht so schnell. Auf dieser Erkenntnis und auf ihren eigenen Erfahrungen bauen Stanz und Füg ihre wissenschaftliche Arbeit auf: sie wollen mittels einer qualitativen Studie, bei der sie in drei bis fünf Heimen Sessions begleiten, Demenz-Poesie als Therapieform etablieren.

Es geht um mehr, als darum die „Vogelhochzeit“ oder einen Wilhelm Busch-Text aufzusagen, es braucht Einfühlung und Geduld und die Kenntnis bewährter therapeutischer Methoden und Kniffe aus Ergotherapie, Psychotherapie, Musiktherapie oder Gedächtnistraining, auf die bei einer Demenz-Poesie-Session mitunter zurückgegriffen wird: basale Stimulation, eigentlich für behinderte Menschen entwickelt, wird da angewendet, taktile, haptische Reize, vibratorische auch orale, werden eingesetzt. Im Heilig Geist-Spital, im Altenheim St. Elisabeth und auf der Station 7 der Klinik Eichstätt konnten Füg und Stanz in den letzten beiden Jahren bereits Erfahrungen sammeln, erkannten Interesse und Bedarf an Demenz-Poesie-Inhalten beim Pflegepersonal und bei Angehörigen.

In Hannover, wo zur Zeit der Arbeitsschwerpunkt der beiden liegt, wird weiter geforscht, werden Anträge geschrieben, Fördergelder aquiriert, Partner gesucht, eine Zusammenarbeit mit der Uni Witten-Herdecke kam bereits zustande.

Zueinander und zur Demenz-Poesie kamen beide durch eine gemeinsame Leidenschaft, die Slam-Poetry (siehe Kasten auf dieser Seite). Füg hat sich in der Szene der Standup-Literaten von Eichstätt aus, wo sie studierte und dichtete, einen Namen gemacht, tingelte auf Festivals und Sessions, holte Kollegen und Kolleginnen an die Altmühl, gab Workshops, referierte, moderierte, publizierte und kam so zu beträchtlichen Ehren: sie erhielt den Förderpreis der Literaturstiftung Bayern, den Kulturpreis Bayern der EON Bayern AG und den Bayerischen Kulturpreis.

Ihr Psychologiestudium schloss sie mit einer Diplomarbeit zum Themenbereich Migration ab. Alten-pflege war ihr nicht unbekannt aber kein besonderes Anliegen. Henrikje Stanz hatte dagegen die Fachrichtung Pflegewissenschaft in ihrem Diplompädagogikstudium gewählt. So gingen wissenschaftliches Know How und pflegerische Praxis, befeuert vom gleichen künstlerischen Antrieb, eine kreative Symbiose ein.

Wie kreativ, das konnte man unlängst bei einem Vortrag im Rahmen der Bayerischen Kulturtage erleben, in dem die beiden jungen Frauen, zusammen mit Simon Felix Geiger, Student der Sozialen Arbeit in Freiburg, und Slamer-Kollege, ihr Auditorium nicht nur informierten sondern geradezu animierten. Mit von der Partie war auch Gary Glazner aus New York, Erfinder und mittlerweile (Welt-)Reisender in Sachen Alz-Poetry. Er erzählte von seiner Mutter, die an einem Hirntumor erkrankt gewesen sei, damals trug er ihr Gedichte vor und bemerkte die positive Wirkung. Das war die Geburtsstunde dessen, was heute in den USA immer weitere Kreise zieht, dort gibt es in Pflegeeinrichtungen bereits festangestellte Alz-Poeten.

Aber am Ende ist da die unvermeidliche Frage: Was bleibt von einer Demenz-Poesie-Session? Wenn Füg und Stanz den Raum verlassen, das ist ihnen klar, haben einige der Teilnehmer sofort, die meisten sehr bald darauf vergessen, was sie gerade erlebt haben. Trotzdem: „Wir steigern gemeinsam die Lebensqualität“, beharrt Stanz, „Patienten werden ruhiger, einzelne brauchen weniger Medikamente“ und Füg sagt, „Wer eine solche Session mitgemacht hat und erlebt, wie die Augen der alten Menschen leuchten, wie sie lachen, sichtlich aufblühen, der fragt nicht ‘Was bleibt’.“

Ja, es schläft ein Lied in allen Dingen – und in den meisten von uns. Es muss nur geweckt werden.         

Michael Heberling, Kirchenzeitung Nr. 39 vom 25. September 2011