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Grundworte zur Exerzitienspiritualität

"Aus der Mitte leben"

Teil 5: Immer mehr!?

aus: Kirchenzeitung für das Bistum Eichstätt, Nr. 22, 30. Mai 2004.

Was ist der Sinn meines Lebens? Wofür möchte ich eigentlich leben? Irgendwann stößt jeder einmal auf diese Frage: der Jugendliche, der sich für einen Beruf entscheiden soll; der Patient im Krankenhaus, der jetzt so viel Zeit zum Nachdenken hat; der Mann, dessen Ehe in die Krise geraten ist; die Frau, die in Rente geht und sich fragt, was sie nun mit ihrer freien Zeit anfangen soll.

Was ist der Sinn, was ist das Ziel meines Lebens? Diese Frage spielt auch in Exerzitien eine Rolle. Oft ergibt sie sich ganz von selbst. Ein Mensch wird in den Exerzitien auf Gott aufmerksam. Er spürt, dass er Ihm sein Leben verdankt. Von Ihm ist er geschaffen. Wem das zum ersten Mal so richtig bewusst wird, der kann ins Staunen kommen: So wie ich bin, bin ich von Gott geschaffen. Von Ihm bin ich gewollt. Er hat mich ins Leben gerufen. Er hat mir meine Fähigkeiten und Begabungen gegeben. Für den „Erfinder“ der Exerzitien, den heiligen Ignatius von Loyola, ist dieser Augenblick ein Schlüsselmoment. Er ist überzeugt davon: Wer so zu staunen beginnt, der findet zum Sinn seines Lebens. Er fragt weiter. Er sucht, was Gott von ihm möchte. Für Ignatius steht fest: Das Ziel des Lebens ist Gott selbst. Ihn darf der Mensch mit seinem ganzen Leben ehren. Dann wird sein Leben gelingen.

Ignatius ist Menschenkenner genug um zu wissen: Das geht nicht von heute auf morgen. Es braucht Zeit und Erfahrung, Versuch und Irrtum. Denn was bedeutet es konkret, Gott zu ehren? Was heißt es für den Schüler, der kurz vor dem Abitur steht? Was für seinen Lehrer, der sich schon längst auf die Sommerferien freut? Was bedeutet es für den Studenten, der nach drei Semestern merkt, dass ihm sein Studium überhaupt keine Freude macht? Und was für die Hausfrau mit ihren drei Kindern? Jeder von ihnen ist in einer anderen Situation. Jeder muss seinen eigenen Weg gehen, seine persönliche Antwort finden. Seine Fragen durchbuchstabieren. Die Exerzitien wollen dabei helfen. Sie geben einen Schlüssel in die Hand. Er lautet: „magis“, das heißt zu deutsch: „mehr“.

Fast fünfzigmal kommt im Exerzitienbuch des Ignatius dieses Wort vor. „Mehr“ meint: Mehr Mensch werden. Mehr so leben, wie Gott mich geschaffen hat. Immer mehr dem Bild entsprechen, das Gott von mir hat. Und das bedeutet letztlich: Mich immer mehr realisieren dürfen und zur Fülle meines Lebens finden. Dazu wollen die Exerzitien den Einzelnen ermutigen. Sie wollen im Übenden den Wunsch wecken, so zu werden, wie Gott es sich von ihm „gedacht“ hat.

Immer mehr. Wer einmal auf die Spur dieses Wortes gekommen ist, der kann seine befreiende Wirkung erfahren. Es wird zur Hilfe in Entscheidungen. „Was führt mich mehr zu Gott?“, kann ein wichtiges Kriterium werden. „Was macht mich mehr frei?“, kann jemand fragen, wenn er vor zwei Möglichkeiten steht. „Was vermittelt mir mehr den guten Geschmack von der Fülle des Lebens, die Gott mir schenken möchte?“ Oder auch: „Was hilft mir mehr, meiner Lebensentscheidung treu zu bleiben?“
Wer sich die Frage nach dem „Mehr“ im Leben stellt, der bleibt nicht stehen. Der rostet nicht ein. Der wächst an den Situationen und Herausforderungen, die er erlebt.

Das Wort „mehr“ passt für den Schüler genauso wie für seinen Lehrer, für den Studenten und für die Hausfrau. Es passt für jeden, der ahnt: Gott ruft zu immer mehr Leben. Zu immer größerer Freiheit. Zu immer tieferer Verbundenheit. Das ist der „Mehr-wert“ des Lebens! Und wo der Mensch nach dem „Mehr“ seines Lebens fragt, da wird er von Gott auch mehr geführt werden. Da wird er sich auf Gott auch mehr einlassen. Da wird er Ihn auch mehr erfahren. Sich von dem Wort „mehr“ leiten zu lassen, bedeutet aktiv und passiv zugleich zu sein: Aktiv alles zu tun, was mich mehr zu dem führt, was Gott von mir will, und passiv alles geschehen zu lassen, was Gott an mir tun möchte. Der geschützte Rahmen der Exerzitien bietet eine gute Gelegenheit, diese Haltung einzuüben. Wer dabei auf den Geschmack gekommen ist, der wird sich dann auch zu hause davon leiten lassen. Immer mehr.

Pfr. Dr. Michael Kleinert

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