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Im Wortlaut

Predigt von Bischof Gregor Maria Hanke OSB zum Jahresschluss 2014 im Eichstätter Dom

Liebe Schwestern und Brüder!

Europa braucht das gelebte Christentum

Hat sich nicht die Aussicht auf ein friedlicheres Miteinander in der Welt innerhalb einer kurzen Zeitspanne verändert? Noch vor wenigen Jahren hatte sich nach dem Ende des kalten Krieges und dem Fall des Eisernen Vorhangs die Hoffnung auf ein friedvolleres Zeitalter ausgebreitet. Optimistisch ging man davon aus, Demokratie und Marktwirtschaft würden sich weltweit unumkehrbar durchsetzen. Westliche Politiker zeigten sich überzeugt, dass nun die Zeit großer militärischer Auseinandersetzungen vorüber sei. Man glaubte, allenfalls noch vereinzelt Unrechtssysteme und Terrorbanden in Schranken weisen zu müssen, um die neue Weltordnung der Freiheit und Demokratie zu sichern.

Wachsende Anzahl von Krisen und Konflikten

Der hoffnungsvolle Optimismus von einst scheint nun in Atemnot zu geraten. Die Zahl der Krisen und Konflikte in der Welt nimmt nicht ab, sondern steigt dramatisch an: die schrecklichen Kämpfe in Syrien und im Irak, das menschenverachtende Terrorregime des IS, das sich auf den Koran zu stützen vorgibt, der Konflikt im Osten der Ukraine, die wachsenden Spannungen mit Russland. All dies geschieht mehr oder weniger vor den Toren Europas. Hinzu kommen Terror in Afrika und Anschläge auf den Philippinen, um nur einige Konfliktherde zu erwähnen. Die Millionen von Menschen, die sich weltweit vor Gewalt, kriegerischen Auseinandersetzungen und Armut auf der Flucht befinden, stellen eine wachsende humanitäre Herausforderung dar. Ökonomische Schieflagen in verschiedenen Regionen der Welt vermehren noch die Armut, verstärken die Aggressionspotentiale und führen zur Entwurzelung der betroffenen Menschen.

Identitätskrise Europas

Diesen Konflikten und Krisen stehen wir in Europa in gewisser Weise hilflos gegenüber. Europa ist in sich selbst uneinig geworden und muss um seine Identität ringen. Äußerlich zeigt sich der wachsende Zwiespalt an Spannungen zwischen den Regierungen in der Europäischen Union und am Erstarken der Zentrifugalkräfte und Nationalbewegungen in einzelnen Ländern, die das vereinte Europa, wie es sich derzeit präsentiert, in Frage stellen. Müssen nicht die Ökonomisierung des Europagedankens und die Identitätskrise in einem gewissen Zusammenhang gesehen werden? Die politischen Debatten, Maßnahmenkataloge und Rechtsentwicklungen in der EU vermitteln schon seit einiger Zeit den Eindruck, als sei die ökonomische Vernunft die wichtigste Klammer des europäischen Bündnisses. Selbst manches, was in Europa als Zuwachs an Rechten, Freizügigkeiten und Befreiung des Individuums daherkommt, ist in Wirklichkeit von wirtschaftlichen Interessen geleitet. Kann ein vereintes Europa auf Dauer primär als Wirtschaftsraum betrieben werden, als „Europa AG“? Ökonomie, Wohlstand, Wachstum, überhaupt materielle Güter stiften nur begrenzt Zusammenhalt.

Europa muss sich auf seine geistigen und kulturellen Grundlagen besinnen. Es ist gerade dabei, den Bezug zu den Wurzeln zu verlieren, aus denen sich die Gestalt und Kultur der europäischen Gesellschaften speiste. Auf  diese Gefahr wies jüngst Papst Franziskus in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament hin.

Werte wurzeln in der Wahrheit

Eine abstrakte Rationalität beherrscht den öffentlichen Diskurs in den Gesellschaften Europas. Diese Strömung sucht sich von geschichtlichen Traditionen und Werten aus religiös-christlichen bzw. jüdisch-christlichen Wurzeln zu befreien. Eine der Folgen ist ein Kulturrelativismus, der Religiöses in jedweder Gestalt und Abkunft als gleichwertig - und letztlich für das öffentliche Leben als gleich unbedeutend - betrachtet, unabhängig von seiner geschichtlichen Prägekraft für Europas Kultur. Die öffentliche Rede von Werten fokussiert sich in der Folge auf solche Phänomene, die nicht wirklich Werte sind, sondern Interessen, subjektive Präferenzen und Vorlieben. Sie müssen nur gesellschaftlich verhandelt werden und durch Konsens Anerkennung erfahren. Die Forderung nach immer weiter reichenden individuellen Rechten kann freilich den Gemeinwohlgedanken in den Hintergrund treten lassen. Größere Freiräume für individuell gestaltete Lebensstile zu beanspruchen, etwa in der Genderdebatte, kann auf Dauer zu Lasten des inneren Zusammenhalts der Gesellschaft gehen.

Selbst das geistige Erbe der Aufklärung droht im Prozess der Relativierung unserer Wurzeln und Subjektivierung des Lebens zu verblassen. Die Väter der Aufklärung glaubten schließlich noch daran, mit der Kraft der Vernunft Wahrheiten erkennen und praktisch umsetzen zu können.[1] Werte sind dann etwas wert, wenn sie sich nicht von subjektiven Interessen, Bedürfnissen und Vorlieben ableiten, selbst wenn diese von vielen oder gar der Mehrheit geteilt werden. Werte müssen auf einem Fundament gründen, das sie als rational einleuchtende Gewissheiten, als Wahrheiten erweist, auch unabhängig vom subjektiven Empfinden oder einer Mehrheit.

Europas Freiheit beruht auf gelebtem Christentum

In einer pluralen säkularen Gesellschaft sind Dialog und Diskurs für Erkenntnis und Verständnis der Grundwerte unabdingbar. Die säkulare politische Kultur in unseren demokratischen Gesellschaften ist allerdings darauf angewiesen, die unserem Gemeinwesen vorausliegenden Werte im Bewusstsein der Bürger zu stärken. Der Verfassungsrechtler Ernst Böckenförde wies vor vielen Jahren bereits darauf hin, dass der säkulare Staat von solchen Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht schaffen kann. Aber wer pflegt eine Kultur lebendiger Erinnerung an die biblisch-christlichen Wurzeln und die Werte, die durch mancherlei Transformationsprozesse hindurch die Säkularität eines freiheitlichen modernen Staatswesens herbeiführten?

Der vielbeschworene Weg zu den Wurzeln Europas wird nicht durch den Gang in die Bibliothek zu den Büchern verwirklicht, in denen die Geschichte des Christentums und der europäischen Kultur beschrieben und analysiert wird. Der Weg realisiert sich auch nicht im Versuch, eine vergangene Zeit mit ihrer Gestalt des Christentums zurückzuholen. Der Weg zu den Wurzeln kann sich nur als Suche und Ringen um jene Gestaltungskraft ereignen, welche die Früchte und Schätze hervorgebracht hat, die wir dem geistigen Erbe Europas zurechnen.

Europa braucht die Kraft der Nächstenliebe

Es ist jene Kraft, die Christen wie Nichtchristen am dichtesten in dem erfahren, was wir christlich Nächstenliebe nennen. „Seht, wie sie einander lieben!“, sagte man über die frühen Christen.

Nach Carl Friedrich von Weizsäcker hat diese Kraft in ihrer Höchstform als praktizierte Liebe die Menschen zu allen Zeiten fasziniert und angesprochen, und sie wird es auch künftig tun. Diese Kraft vermag unserem Miteinander auch heute eine humane Gestalt zu geben.

Als Christen sind wir gerufen, in das plurale gesellschaftliche Miteinander die Kraft der Liebe einzubringen. Woraus soll die Kraft erwachsen, wenn nicht aus unserem lebendigen Glauben als Jünger Jesu? Selbst wenn wir Christen an Zahl geringer werden, unsere Gesellschaften brauchen die Erfahrung dieser Kraft.

Jeder ist zur bekennenden Nachfolge gerufen

Wie vermag ich als einfacher Katholik, als Arbeiter, als Angestellte, als Jugendlicher, als Familienmutter, als Familienvater in Eichstätt, Ingolstadt, Nürnberg oder einem anderen Ort etwas beizutragen? Der Herr traut es uns, seinen Jüngern, zu, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein! Im Markusevangelium lesen wir über den Aufbruch und das Zeugnis der Jüngergemeinde nach Ostern: „Der Herr stand ihnen bei und bekräftigte die Verkündigung“ (Mk 16,20). Diese Verheißung des Beistands gilt auch für uns heute!

Das Zweite Vatikanische Konzil, dessen Abschluss bald 50 Jahre zurückliegt, hat uns in der Konstitution Gaudium et spes (GS) daran erinnert, dass wir als Glieder der Kirche zum Dienst und zur Sendung in und für die Welt berufen sind. Die Kirche ist Sakrament des Heils für die Menschheit und die Welt. Unsere Sendung dient gemäß Gaudium et spes der Rettung der menschlichen Person und dem rechten Aufbau der menschlichen Gesellschaft (GS 3).

Uns, die wir am ganzen Leben der Kirche tätigen Anteil haben, obliegt es demnach nicht nur, „die Welt mit christlichem Geist zu durchdringen, sondern … überall, und zwar inmitten der menschlichen Schicksalsgemeinschaft, Christi Zeugen zu sein“ (GS 43).

Christliche Sprachlosigkeit

Ein solches Zeugnis soll wahrnehmbar und einladend sein. Eine Ursache für unsere Schwierigkeiten, diesem Auftrag nachzukommen, ist unsere Sprachlosigkeit. Sprachlos gegenüber Gott! Wir tun uns schwer mit der Gottesbeziehung und mit dem Gebet, etwa dem gemeinsamen Gebet in der Familie oder als Eheleute. Wir wagen es zu wenig, in unseren Familien und Freundeskreisen über Glaubensthemen zu sprechen, uns auszutauschen über Erfahrungen im Glauben, der uns trägt, auch durch manche Zweifel hindurch.

Wir bleiben sprachlos gegenüber Gottes Wort. Wir konservieren es als Museumsstück und bleiben die Antwort mit unserem Leben schuldig. Wenn der Geist des Zeugnisses schwach ist, entfaltet es wenig Frucht in die Welt hinein.

Gottesbezug im eigenen Leben

Mehr noch als für den Gottesbezug in unseren Verfassungen sind wir gehalten, für den Gottesbezug des eigenen und gemeinsamen Lebens Sorge zu tragen. Papst Franziskus legt uns in Evangelii gaudium dar, wie wir aus der spirituellen Lähmung heraus kommen und in eine Lebenshaltung hineinwachsen können, die die Liebe Gottes sichtbar macht: Ein lebendiger Glaube aus der Beziehung zum Gekreuzigten, der von seinen Wundmalen im Heute angerührt ist und von der Freude über die uns verheißene Hoffnung getragen ist, befähigt uns, auf die Welt mit ihren Fragen und Nöten voll Liebe zuzugehen und so zu wahren Dialogpartnern der Gesellschaft zu werden. (EG 268 u. 270)

Für uns Jüngerinnen und Jünger Christi gestaltet sich der Dialog gleichsam als „liebender Kampf“ in uns und um uns (Karl Jaspers). Da ist das Ringen um die rechte Distanz des Jüngers Jesu zur Welt auf der einen Seite, weil wir uns ihr nicht angleichen dürfen. Andererseits gehört unsere leidenschaftliche Hingabe an die Nöte der Welt zu unserer Sendung, ja die Annahme der Welt als Aufgabe und Gabe. Nach Papst Franziskus gilt es der Versuchung zu widerstehen, abgeschirmte christliche Sonderwelten zu bilden. Eindrücklich fasst er die Sendung des Getauften zusammen: „Ich bin eine Mission auf dieser Erde, und ihretwegen bin ich auf dieser Welt. Man muss erkennen, dass man selber „gebrandmarkt“ ist für diese Mission, Licht zu bringen, zu segnen, zu beleben, aufzurichten, zu heilen, zu befreien.“ (EG 272)

Der Glaube heilt die Ängste der Zeit

Damit tun wir für die Zukunft unserer Gesellschaft und Europas das Beste. Europa, das sogenannte Abendland, muss nicht auf Straßen und Plätzen mit Transparenten und Demonstrationen gerettet werden, die allzu leicht zu einem gefährlichen politischen Spiel mit Ängsten und Emotionen werden können. Freilich lassen sich Gefühle und Befürchtungen nicht verbieten, selbst falsche Emotionen nicht. Aber sie bedürfen der Heilung. Das Zeugnis unseres vertrauensvollen Glaubens und unser christlicher Dienst an der Welt kann dazu beitragen, die Ängste zu heilen. Denn der Weg zur Rettung des Menschen ist die lebendige Beziehung mit Jesus Christus. Dazu wollen wir Christen die Menschen einladen. Unsere Orte der Demonstration dieses heilenden Weges sind die liturgischen Versammlungen in unseren Kirchen, die Gebetsversammlungen in unseren Familien und Häusern, unsere kirchlich-caritativen Einrichtungen, unser Arbeits- und Freizeitplätze, die gesellschaftlichen Brennpunkte, an die wir als Boten Christi gehen. Dort soll die Kraft jener Liebe spürbar werden, die aus dem Glauben und der Botschaft erwächst, von Gott geliebt zu sein.

Wir Christen sollten in Europa eine Wurzelbewegung im eigentlichen Sinn des Wortes sein. Aus den Wurzeln des Glaubens zu leben, bedeutet, die Kraft der Wurzeln freizusetzen für die Fragen, die Sorgen und Nöte der Menschen hier und heute.

Widerstand gegen den „assistierten Suizid“

Bereitschaft, an die Wurzeln zu gehen, zeigte unser diözesaner Kolpingverband in der öffentlichen Debatte um den assistierten Suizid. Der Verband verabschiedete eine Resolution für die Würde und Unantastbarkeit des schwerkranken menschlichen Lebens und warnte vor dem großen Schaden, den die Zulassung des sogenannten assistierten Suizids gesellschaftlich anrichten würde.  Ich danke unserem Diözesankolpingverband nicht nur für dieses klare Bekenntnis zu unseren christlichen Werten, sondern auch für den Anstoß zum Nachdenken, der damit in die eigenen Reihen und in die Öffentlichkeit gegeben wurde.

Eine bedeutende liberale Zeitung unseres Landes kommentierte jüngst kritisch die öffentliche Debatte über assistierten Suizid oder Tötung auf Lizenz wie folgt: „Die klassische Formel eines christlichen Begräbnisses lautete einmal: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Damit soll es für immer Schluss sein: Der Mensch hat’s gegeben, der Mensch hat’s genommen.“[2]

Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens

Liebe Schwestern und Brüder, für uns Christen gilt das Leben als Gottesgeschenk, ja als Leihgabe des Schöpfers und damit als unverfügbar. In einem Zeitungsinterview formulierte eine Journalistin den Einspruch dagegen wie folgt: „Wem gehört der Mensch? Man könnte sagen, niemandem so sehr wie sich selbst!“[3] Der Bezug eines jeden menschlichen Lebens zur sozialen Gemeinschaft und zur Mitverantwortung für das größere Ganze der Gesellschaft wird nicht gesehen. Die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens halten Agnostiker und Nichtglaubende für ein speziell christliches Deutungsmuster, an das sich Nichtglaubende nicht gebunden fühlen müssen. Ein solches Argument lässt außer acht, dass sich die Würde und Unantastbarkeit menschlichen Lebens auf naturrechtlicher Grundlage begründen lässt.

Der ärztliche Eid des Hippokrates, entstanden ca. 400 Jahre vor Christus in Griechenland, enthält ein klares Bekenntnis zum Schutz des Lebens und seiner Unantastbarkeit. Der Text, der Bezug nimmt auf Götter wie Apollon, Asklepios und Hygieia, enthält folgende Passage:

Auch werde ich niemandem ein tödliches Gift geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, und ich werde auch niemanden dabei beraten; auch werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel geben. Rein und fromm werde ich mein Leben und meine [ärztliche] Kunst bewahren.

„Sterbehilfe“ ist Begriffsverwirrung

Beschönigend spricht man in der Debatte um assistierten Suizid von „Sterbehilfe“ und vom „Sterbehelfer“. Die Macht der Sprache dient der Manipulation, der allmählichen Aufweichung bisheriger Einstellungen in der Bevölkerung. Möchte beim letzten Gang etwa jemand auf Hilfe verzichten? Der frühere Politiker Franz Müntefering äußerte kürzlich Kritik an der Terminologie der Täuschung. Er habe mindestens zweimal aktive Sterbehilfe geleistet, sogar sehr aktiv: Beim Sterben seiner Mutter und beim Sterben seiner Frau. Da sei er dabeigesessen, habe die Sterbende getröstet und deren Hand gehalten. Wahre Hilfe beim Sterben!

Wenn hingegen das unantastbare menschliche Leben nun auch am Lebensende verhandelbar wird, gibt es irgendwann kein zwingendes Argument, die juristischen Einschränkungen und Klauseln von heute nicht doch ausweiten.  Wir können jetzt schon verfolgen, wie in anderen Ländern die Schutzzäune niedriger geworden sind. Dort kann nun auch über das Leben schwerstkranker Kinder und Minderjähriger verfügt werden.

Löcher in der Schutzwand der Unverfügbarkeit

Um den selbst gewählten Tod zu legitimieren, wird das Selbstbestimmungsrecht des Menschen bemüht. Mit diesem Universalargument wurden schon mehrere Löcher in die Schutzwand der Würde und Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens geschlagen. Es sei nur an PID und In-vitro-Fertilisation erinnert, also an die Selektion von Embryonen und die Möglichkeit, Kinder im Reagenzglas zu zeugen. In diesen Zusammenhang gehört auch das social freezing, das Einfrieren von Eizellen, das der Frau die Perspektive eröffnet, ihre besten Jahre dem Erwerbsleben und der Karriere zu schenken und die Mutterschaft auf jene späteren Lebensjahre zu verschieben, die offensichtlich für Karriere und Erwerbsprozess weniger effizient sind. Wenn das menschliche Leben künstlich produziert wird, ist freilich der Gedanke an seine Entsorgung naheliegend, sobald der Stoff des Lebens abgetragen und brüchig geworden ist.

Selbsttötung zerstört die Selbstbestimmung

Den assistierten Suizid, die Tötung auf Lizenz mit der Selbstbestimmung des Menschen zu rechtfertigen, ist ein Widerspruch in sich. Ebenso wie die Worte „Atem“ und „Herzschlag“ gehört „Selbstbestimmung“ zu den Begriffen, die das Leben beschreiben. Das Selbstbestimmungsrecht des Menschen dient der Gestaltung des Lebens, es ist Teil unseres Freiheitsbegriffs. Werden die verharmlosenden Sprachspiele vom selbstbestimmten Tod, von Sterbehilfe nicht unserem Konzept von Freiheit in unserer demokratischen Gesellschaft am Ende Schaden zufügen? Soll die Freiheit dazu dienen, den Tod des Menschen zu organisieren? Franz Müntefering trifft in dem schon erwähnten Interview die Feststellung: „Eine Gesellschaft, die am Ende Häuser bauen würde, in denen man den Menschen nicht beim Sterben hilft, sondern sie töten hilft, wäre eine andere Gesellschaft als die, in der wir heute leben.“

Der Freiheitsbegriff der Befürworter des assistierten Suizids weist eine gefährliche innere Inkonsequenz auf, wenn er zwar mit dem Ruf nach Selbstbestimmung die Beihilfe zum Selbsttötung zum Recht erklärt, es dann aber doch in paternalistischer Weise begrenzen und es nur Schwerstkranken zugestehen möchte. Sollte sich in der Gesellschaft erst einmal der Gewöhnungseffekt bei der Tötung auf Lizenz eingestellt haben, könnten andere Patientengruppen, etwa schwer Depressive oder todesmüde alte Menschen ebenfalls das Recht auf einen selbstbestimmten Tod einfordern. Mit welchem Argument wollte man sie ausschließen, es sei denn mit dem Bekenntnis zur grundsätzlichen Unantastbarkeit des Lebens?

Wie will man einen sogenannten selbstbestimmten Tod verhindern, der durch stillen oder gar offenen psychischen Druck auf einen schwerstkranken Patienten aus familiären Kontexten oder vom Gesundheitssystem veranlasst wird?

Was besagt überhaupt selbstbestimmtes Sterben in einer Grenzsituation, in der ein Mensch gezeichnet ist von nahezu unerträglichen Schmerzen? Welche Kraft oder Macht im Menschen übt in einer solchen Lage die Bestimmung aus? Das Schmerzempfinden oder die freie Verantwortung für das Leben?

Gott will das Leben

Sozialwissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die meisten der unheilbar und unter Schmerzen leidenden Kranken ihren Todeswunsch zurücknehmen, sobald ihnen eine adäquate Schmerztherapie zuteil wird und sie nicht weiter von einer ehrgeizigen Apparatemedizin mit unnötigen lebensverlängernden Maßnahmen traktiert werden. Jemanden in Frieden sterben lassen ist christlich, jemandem den Tod zu bringen, ist es nicht.

Wir Christen bekennen den Gott des Lebens. Als solcher hat er sich uns in Christus offenbart. In Jesus Christus ist das wahre Leben und das Licht der Welt erschienen. Jesus sagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben.“ (Joh 10, 11). Unsere christliche Sendung in die Welt, unsere Mitwirkung an der Gestaltung der Gesellschaft, unser Engagement für die Würde des Lebens soll den Ruf Gottes zum Leben abbilden. Allen Pflegerinnen und Pflegern in unseren Caritas-Altenheimen, in allen Altenheimen und Pflegestationen, in den Hospizen, in der häuslichen Pflege gilt unser Dank, unsere Unterstützung und gebührt unser Gebet.

Neuausrichtung der Pastoral

Liebe Schwestern und Brüder, die Anzahl der Christen, ob evangelisch oder katholisch, nimmt in unserer Gesellschaft zahlenmäßig ab. Damit aber die christliche Prägekraft Stärkung erfährt, ist für die zukünftige Gestalt der katholischen Kirche unseres Landes Vorsorge zu treffen, sowohl auf pfarrlicher und diözesaner Ebene als auch landesweit. Die Minderheitensituation soll uns nicht ermüden. Dazu brauchen wir Räume lebendiger Glaubenserfahrung und Glaubensgemeinschaft. Wollen wir gemäß dem Aufruf von Papst Franziskus mit all unseren Kräften evangelisierende Gemeinde und Kirche sein, werden wir das Erbe an Strukturen, Institutionen, Personalbedarf und Gebäuden in diesem Umfang nicht fortführen können.

Auch in unserem Bistum gilt es, dem kirchlichen Leben kommender Jahre jetzt schon den Weg zu bereiten. Auf der pfarrlich-lokalen Ebene regen sich verständliche Ängste, kirchlich gewachsene Strukturen und Liebgewordenes zu verlieren. Diese Ängste gilt es ernst zu nehmen. Doch wenn es oft heißt, „Lasst doch die Kirche im Dorf!“, so müssen wir ehrlicherweise zurückfragen: „Ist denn die Kirche noch im Dorf? Oder steht dort nur noch das Gebäude ohne die lebendige Kirche?“ Was allerdings heute lebendig ist und auch morgen lebendig sein kann, das gilt es in der Tat zu stützen und zu bewahren.

Kirche im gesellschaftlichen Wandel

Es ist notwendig geworden, über die Neuausrichtung der Pastoral und eine entsprechende Verteilung der Ressourcen nachzudenken, weil wir bereits inmitten eines Wandels der Glaubenspraxis und damit mitten in einem Transformationsprozesses der Sozialgestalt der Kirche stehen. Die Augen vor der sich verändernden Situation zu verschließen und zu erwarten, alles müsse bleiben wie früher, verkennt die Realität, die doch in unseren Pfarreien bereits deutlich ablesbar ist: Die Mitfeiernden in den Gottesdiensten kommen mehrheitlich aus der älteren Generation. Das lässt aber im Umkehrschluss erwarten, dass die Zahl der Gottesdienstteilnehmer auch in Zukunft weiter zurückgeht.

Für eine Pfarrei hat dies neben den geistlichen auch materielle Folgen: Es wird schwieriger, die Gotteshäuser zu unterhalten. In unserer differenziert gewordenen Gesellschaft gestaltet es sich zunehmend mühseliger, Gläubige für ein ehrenamtliches Engagement in Pfarrei, Gremien und Verbänden zu motivieren. Hinzu kommt eine innere und äußere Distanz nicht weniger Getaufter und Gefirmter zum pfarrlichen Leben und zu einer den Alltag prägenden Beziehung mit Christus. Die Entscheidung für Taufe, Erstkommunion und Firmung geht nicht mehr unbedingt einher mit der Bereitschaft, die Beziehung mit Christus und die Gemeinschaft mit der Kirche zu vertiefen. Mitunter überwiegt der Wunsch nach einer rituellen Begleitung eines familiären Festes. Hier verschieben sich Verhältnisse und Erwartungen. Die Kirche wird als Dienstleister bei konkreten Lebensanlässen verstanden. Außerhalb solcher familiärer Festzeiten scheint vielfach kein Bedarf zu bestehen, den Kontakt mit der Gemeinschaft der Glaubenden zu pflegen.

Geistliche Aufbrüche

Trotz all dieser Erscheinungen besteht für uns kein Grund zu verzagen, denn der Herr selbst sitzt im Boot der Kirche. Sein Ruf „Fürchtet euch nicht“, gilt immer noch. Wie damals seine verschwindend kleine Jüngerschar, so sendet er uns heute aus: „Fahrt hinaus, werft euere Netze aus!“ Aber wohin sollen wir gehen? Welche Richtung sollen wir nehmen?

Bei genauem Hinsehen ist zu erkennen, dass immer wieder kleine und größere geistliche Saatkörner aufbrechen, die den einzuschlagenden Weg andeuten. Ich will nur kursorisch auf einige hinweisen. Wir haben in Regensburg einen Katholikentag mit einer geistlichen Ausrichtung erlebt, die viele Verantwortliche positiv überrascht hat. Foren, die sich dem Austausch von Glaubens- und Lebenserfahrungen widmeten, waren gefragt, ebenso gemeinsame liturgische Feiern in meditativer Gestaltung. Auch in unserem Bistum brechen immer wieder solch kleine Saatkörner abseits des großen Flutlichts auf. Aus dem Bereich der Jugend will ich einiges erwähnen. Junge Erwachsene finden sich regelmäßig zu Lobpreis und Begegnung zusammen. In verschiedenen Städten wurde Nightfever als kleine Schule zum Stillwerden und zur Anbetung angeboten. Ich konnte feststellen, wie sich in den Jugendverbänden das Verlangen nach geistlicher Nahrung und Begleitung regt. Da unterstützt man sich gegenseitig auf dem Weg durch selbst erstellte Impulse. Unser diözesaner BDKJ bietet Schulungen zur geistlich-menschlichen Qualifizierung an, damit junge Christen miteinander Weggemeinschaften bilden können. Jugendgruppen planen gemeinsame soziale Aktionen, weil sie helfen wollen und die Gemeinschaft miteinander suchen.

Deutet man das Aufbrechen solcher Saatkörner, dann scheint es, dass unsere Pastoral der Zukunft der Gemeinschaftsbildung dienen sollte. Die Neuordnung der Pastoral darf sich nicht in erster Linie als Flurbereinigung oder Gebietsreform verstehen. Sie soll zur Ermöglichung der Gemeinschaft im Glauben führen, die in der Feier der Liturgie und in gelebter Solidarität verankert ist.

Kirche ist Gemeinschaft Jesu

Es ist eine Grundwahrheit christlicher Jüngerschaft, dass ich nicht aus mir selbst und in einem abgesonderten Leben zum Jüngersein befähigt werde, sondern im Angesicht des Du. Jesus berief seine ersten Jünger einzeln oder zu zweit, führte sie dann aber der Gemeinschaft der anderen zu. In der Gemeinschaft miteinander und um den Herrn reiften sie in der Jüngerschaft, wurden Christus ähnlich.

Wir brauchen eine Pastoral der Gemeinschaftsbildung nach Art der Jüngerschule Jesu, wir brauchen pastorale Räume und Orte, an denen communio gefördert wird. Gewiss hat man den gemeinschaftsstiftenden Pfingstgeist zu erbitten, aber wir müssen selbst das Unsrige tun, indem wir uns in die Jüngerschule Jesu, auf den Weg seiner Menschwerdung begeben. Es gilt die Angebote, die im Bistum dafür bereits gemacht werden, noch mehr zu ergreifen und auszuweiten. Die größeren pastoralen Räume der Zukunft sollen getragen werden von kleinen Gemeinschaften vor Ort, von Hauskirchen und geistlichen Zellen, verknüpft durch die Eucharistie, die Angelpunkt unserer pastoralen Planungen sein muss. Bereits Paulus wusste darum, dass Gruppendynamik obsiegt, wo in der Gemeinde das rechte Verständnis für die Eucharistie abhanden kommt. Communio aus der Eucharistiefeier, aus der Feier der Sakramente und aus dem Wort Gottes macht uns stark für die dienende Liebe und für das Zeugnis in der Welt und lässt uns vieles in der Welt als Geschenk an uns, an die Kirche erfahren.

Der Herr vergelte Ihnen mit seinem reichen Segen, was Sie an Gebet und tätiger Liebe im zurückliegenden Jahr 2014 der Welt geschenkt haben. Er sei Ihnen in Ihren Familien und Freundeskreisen im kommenden Jahr nahe, er erhalte uns das Vertrauen auf seine Gegenwart, besonders wenn Nöte und Sorgen schwer auf uns liegen. Er segne unseren Weg als Kirche von Eichstätt im Jahre 2015.

Amen.

Gregor Maria Hanke OSB

Bischof von Eichstätt


[1] Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, verfasst von Thomas Jefferson, beginnt: We hold these truths to be self-evident …

[2] Jens Jessen, Der neue Mensch: Die Zeit 17. Dezember 2014

[3] Das Leben ist eine tolle Sache. Ein Gespräch mit dem SPD-Politiker Franz Müntefering über die Angst vor Schmerzen und seine wachsende Gelassenheit: Die Zeit Nr 53, 2014, mit Tina Hildbrandt.