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Im Wortlaut

Predigt von Bischof Gregor Maria Hanke OSB an Silvester 2006 im Eichstätter Dom

Die Versuchung des Augenblicks

In seinem Drama Faust Teil I schildert uns Goethe nach der berühmten Szene des Osterspaziergangs den Pakt Fausts mit dem Teufel. Faust, von Tatendrang erfüllt, weiß um die schlimmen Folgen dieses Paktes, sollte er sich je der Selbstgefälligkeit und der Schmeichelei ergeben, um den Augenblick festhalten zu wollen. Der Dichter lässt Faust sprechen:

Und Schlag auf Schlag!
Werd' ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! Du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!

Den Augenblick festhalten zu wollen, sich im Hier und Jetzt einzuhausen, ja einzukrallen, um der Zukunft enthoben zu sein, die wie eine Scheidelinie aus der süßen Erfahrung des Augenblicks Vergangenheit gerinnen lässt, ist nicht nur ein Thema der Literatur, sondern eine reale Versuchung, die jeder schon in irgendeiner Form verspürt haben dürfte: Das Jetzt zu verkosten und der Zukunft nicht antworten zu müssen.

Gottesglaube als Zukunftsglaube

Dem illusorischen Verlangen, den Augenblick dem Strom der Zeit entreißen zu können, steht die Haltung des alttestamentlichen Psalmbeters gegenüber. Nüchtern und schlicht bitten die Worte des Psalm 90 den Herrn: „Unsere Tage zu zählen, lehre uns! Dann gewinnen wir ein weises Herz.“ (Ps 90,12) Der Beter weiß sich inmitten des stetig fließenden Stroms der Tage und Jahre seines Lebens. Er will den Fluss der Zeit nicht anhalten. Vielmehr ist er sich bewusst, dass die Maßeinheit seiner Biographie begrenzt ist und dass der Fluss der ihm gegebenen Zeit versiegen wird. Nicht die Zeit anhalten zu wollen, sondern der achtsame und erfüllte Umgang mit der fließenden Zeit ist Ausdruck der Weisheit. In Anlehnung an diesen Gedanken möchte man an einen Brauch in griechischen Klöstern denken. Dort werden die Mönche durch das rhythmische Schlagen eines Holzbalkens, des sog. „Simantrons“, geweckt oder tagsüber zur Gebetszeit gerufen. Der Rhythmus beim Anschlagen, so eine Deutung, soll den Wortrhythmus des Griechischen „ta talanta ta talanta“ wiedergeben. - „Die Talente, die Talente.“ Gemeint ist: Steh’ auf, mache die Zeit fruchtbar, mache sie zum Talent für deine Zukunft.

Den Augenblick festhalten oder die mir bemessene Zeit wägen und als Talent für die Zukunft einsetzen. Die Propheten des Alten Testaments rüttelten das Volk immer wieder aus der Selbstverliebtheit, das meint aus der Kurzsichtigkeit auf und veranlassten es, auf die Spuren Gottes in der Geschichte zurückzuschauen, um sich mit geschärftem Blick für Gottes Weg in die Zukunft öffnen zu können. Biblischer Gottesglaube ist Zukunftsglaube. Der Blick für die von Gott bereitete Zukunft erwächst aus der betend-betrachtenden Rückschau auf die Heilsgeschichte.

Verlust der Zukunft als Denkform

Liebe Schwestern und Brüder! Den Augenblick festhalten oder die uns bemessene Zeit wägen und als Talent für die Zukunft einsetzen.

Wissenschaftler stellen fest, dass unsere moderne Gesellschaft zusehends am Verlust der Zukunft als Denkform leidet (Stuart Brand, Das Ticken des langen Jetzt, Frankfurt 2000, engl. Original: The Clock of the Long Now).

Stattdessen zeigt sie sich gegenwartsfixiert. Gerade technische Weiterentwicklungen ereignen sich mit einer exponentiellen Steigerung der Geschwindigkeit. Mit solch rasanten technischen Entwicklungsschritten verbindet sich die Erfahrung der Menschen von Kurzfristigkeit, Unsicherheit und vom Wandel vieler Lebensbereiche. Verhandlungsergebnisse, Wahlergebnisse, ökonomisches Handeln, etwa bei Gesellschafter- oder Aktionärs­versammlungen, Berufs- und Lebensentscheidungen sind nicht mehr langfristig und auf Zukunft angelegt. Wir kennen durchaus das zeitliche Ende, aber die Denkfigur der Zukunft als stabiler Orientierungsrahmen verschwimmt, stattdessen breitet sich ein Lebensgefühl aus, das sich vornehmlich auf das Hier und Jetzt konzentriert. Der Augenblick, die Gegenwart wird ausgedehnt, dabei verliert auch die Vergangenheit an Stellenwert. Dieses neue Lebensgefühl hat bereits auf unsere Lebenseinstellung ausgegriffen und erschwert dem Menschen den Zugang zu Ehe und Familie, die ohne Bindungsbereitschaft und ohne das, was der Glaube als Treue begreift, nicht gelebt werden können. Treue ist doch die auf Zukunft gerichtete Kraft der Liebe.

Der Verlust des Empfindens für Zukunft ist für den Offenbarungsglauben eine enorme Herausforderung. Unser biblischer Gottesglaube ist offen nach vorn, ist zukunftsorientiert auf die Wiederkunft des Herrn und auf die Vollendung der Schöpfung. Deinen Tod, o Herr verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.

Wo die Dimension christlicher Zukunft verloren geht, gleitet das Leben ab ins Banale, da ziehen Pragmatismus und Utilitarismus, Hedonismus und das Recht des Stärkeren ein.

Der dramatische Spannungsbogen aus Schöpfung, Neuschöpfung und schließlich eschatologischer Vollendung, in den jede christliche Existenz eingespannt ist, löst sich auf. Ein Leben ohne christlich geglaubte und gelebte Zukunft gleicht einer zerrissenen Perlenkette. Die Perlen gleiten herab, es herrscht Bewegung, vielleicht sogar das Spiel der Perlen, aber je mehr Bewegung desto mehr Auflösung.

Weil wir auf Gottes Zukunft hin leben, blicken wir am Jahresende zurück. Unsere Tage zu zählen lehre uns! Unser Blick zurück ist keine archivierende Bilanzierung, sondern als Danksagung prophetischer Ausblick. Denn ER, der der Herr der Geschichte ist, erweist sich auch als Herr der Zukunft. Christus – Alpha und Omega, Anfang und Ende, so deutet der Priester in der Osternacht die Symbolik auf der Osterkerze.

Auf dem Weg in die Zukunft Gottes

Ermunterung für eine Zukunft aus dem Glauben war im Jahr 2006 für zahlreiche junge Menschen der sog. diözesane Weltjugendtag als Nachfeier des Kölner Weltjugendtages. Am Freitag der Osterwoche nahmen in Plankstetten weit über 1000 junge Menschen betend, singend, miteinander feiernd daran teil und gaben einander ein Zeugnis ihrer Hoffnung. Es zeigte sich: Viele Jugendliche begnügen sich nicht mit dem Hier und Jetzt, sind nicht zufrieden mit einem Leben aus dem Augenblick. Sie sind auf der Suche und ansprechbar für die Zukunft, die der Glaube an Jesus Christus verheißt. Die Jugend sucht nach Stätten und neuen Formen solcher Erfahrung.

Ermunterung auf dem Weg der Kirche in die Zukunft war uns der Besuch unseres Heiligen Vaters Papst Benedikt im September dieses Jahres in unserem Bayernland. Sein Aufenthalt in Bayern darf nicht allein als rückschauende Würdigung seiner Herkunft und als Bekenntnis zur Heimat, sprich zur Ortskirche, als dem Mutterboden für den Empfang und die Weitergabe des Glaubens verstanden werden. Das Papstwort: Wer glaubt, ist nie allein dient uns als Zuspruch für unseren steten Aufbruch in die Zukunft Gottes. Der Papst ließ uns in seinen Ansprachen teilhaben an der Hoffnung, die ihn auf dem Weg trägt.

Zudem tat es uns als Kirche gut, dass wir uns in den Tagen des Papstbesuches als Gemeinschaft erleben durften, die Zukunft lebt:

als große Gottesdienstgemeinde, in der die Freude an Gott spürbar wurde,
als Anziehungspunkt für viele junge Menschen, die an den Feiern mit dem Heiligen Vater eilnahmen,
als Kirche, die in diese Zeit hinein spricht und durchaus positiv von der säkularen Gesellschaft wahrgenommen wurde.

Das rege Interesse der Medien an der Papstreise verriet einen tieferen Hunger in den Menschen unserer Tage: einen Hunger nach wahrem Leben und Zukunft, der nur gestillt werden kann von Menschen und Worten, die selbst aus der Kraft dieser Zukunft kommen.

Fragen auf dem Weg

Gerade weil der Besuch des Papstes von vielen Katholiken als so ermutigend empfunden wurde, erschütterten uns der große Aufruhr und die Anti-Papst-Demonstrationen in bestimmten Kreisen der islamischen Welt nach der sog. Regensburger Rede des Heiligen Vaters in der Universität. Anlass war, wie wir uns erinnern, eine von Medien aus dem Kontext gerissene Passage, bei der es sich um ein Zitat des Papstes aus einer historischen Quelle handelte. Eines der Hauptanliegen der argumentativ feinsinnig und eirenisch aufgebauten Rede, die Frage nach der Vermittlung von Glaube und Vernunft, wurde inmitten der heftigen Reaktionen überhaupt nicht mehr wahrgenommen. In einigen Gazetten hierzulande konnte man sogar bei Journalisten, die nicht gerade als Multiplikatoren religiöser Positionen gelten, eine seltsame Wendung feststellen. Sie sorgten sich um das Verhältnis zum Islam und kommentierten mahnend oder gar vorwurfsvoll die Worte des Papstes. Warum dieses unterschiedliche Maß an Sensibilität gegenüber Religion? Sollte es der Volkszorn in den Straßen islamischer Städte gewesen sein, der die Führung der Feder beeinflusste?

Eines haben die Reaktionen islamistischer Kreise auf die Papstrede in jedem Fall bewirkt: eine bewusstere Wahrnehmung des Islam hierzulande und ein längst fälliges Nachdenken über die Bedingungen und Möglichkeiten eines Dialogs zwischen Christentum und Islam, zwischen westlicher und islamischer Gesellschaft.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass fundamentalistische Kreise des Islam den westlichen Gesellschaften mit Verachtung begegnen. Nach ihrer Auffassung ist der Westen islamisches Missionsgebiet. Denn unsere Gesellschaften gelten ihnen zumindest als religiöses Vakuum, in dem der Gottesglaube verdunstet und einem materialistischen Wohlstandsglauben gewichen ist.

Liebe Schwestern und Brüder, wie sollten wir andererseits von jenen Respekt vor unserer Kultur und Geschichte erwarten dürfen, wenn wir uns in Europa und Nordamerika selbst von den religiösen Wurzeln unserer Kultur verabschieden, wenn unsere christliche Identität in Europa verschwimmt? Der christliche Glaube dünnt immer mehr aus; wo er lebendig ist, wird er in die Privatsphäre abgedrängt. Wir haben uns doch damit abgefunden, dass man den christlichen Glauben öffentlich diffamieren darf. Wir empfinden es als Ausdruck der Trennung von Religion und Staat, wenn Kreuze in öffentlichen Räumen abgehängt werden. Die Unantastbarkeit des vorgeburtlichen Lebens ist legal ausgehöhlt, und schon steht der Schutz des alten und schwerkranken Lebens zur Disposition. Was wundert es, wenn angesichts einer solchen Entwicklung der Mensch seine Würde mehr und mehr verliert und zum Humankapital erklärt wird.

Und dennoch fragt sich seit den heftigen Auseinandersetzungen um die Regensburger Rede des Papstes nun mancher im Westen, ob unser Umgang mit der islamischen Welt nicht teilweise der Versuchung erlegen war, unser von der Aufklärung geprägtes Denken und unsere Vorstellung von Toleranz in den Islam hineinzuprojizieren und damit ein Stück seiner Wirklichkeit nicht wahrzunehmen. Während wir nach den Regeln des Rechts und der Toleranz zu verfahren suchen, etwa bei der Genehmigung von Moscheebauten, ist es in Saudi-Arabien hingegen Christen nicht oder fast nicht möglich, ihren Glauben außerhalb der intimsten Privatsphäre zu praktizieren. Die koptischen Christen in Ägypten sehen sich beim Wunsch, Kirchen oder Gemeindezentren zu bauen oder nur zu renovieren, zumeist großen Schwierigkeiten bis hin zu Schikanen ausgesetzt. In der Türkei, einem Land an der Schwelle zur EU, gelang es dem ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel bis heute nicht, die Genehmigung für die Wiedereröffnung des vor Jahrzehnten zwangsweise geschlossenen Priesterseminars zu erlangen. Junge Christen in arabischen Ländern verlassen in immer größerer Zahl ihre Heimat, in der sie wegen des christlichen Glaubens kaum noch Chancen für gehobene Berufe sehen.

All diese für uns Christen und für das westliche Toleranzempfinden traurigen Fakten dürfen unsererseits jedoch nicht Anlass zu einer feindseligen Haltung gegenüber dem Islam werden. Die Sache des Glaubens, die Sache Gottes kann sich nicht auf Hass und Feindschaft gründen. Besonders unseren muslimischen Mitbürgern Tür an Tür schulden wir Respekt, zumal wenn sie dem, was uns heilig und wertvoll ist, Achtung entgegenbringen und ihr Leben in Frieden gestalten.

Die Ereignisse nach der Regensburger Rede mahnen uns, den Dialog mit der islamischen Welt erst recht zu suchen und uns um Realismus zu bemühen. Dazu gehört auch, gerade in dieser Situation den Islam differenziert und nicht nur vom augenblicklich virulent erscheinenden Phänomen des Fundamentalismus her wahrzunehmen. Hierzulande wurde kaum bemerkt, dass sich der Großmufti von Damaskus nach der Regensburger Rede des Heiligen Vaters weigerte, eine Stellungnahme zum Zitat aus der Papstrede abzugeben, solange ihm keine ausführlicheren Informationen vorlägen. Als diese dem Großmufti zugänglich waren, lud er die Bischöfe der christlichen Kirchen Syriens zu einem Gespräch bei sich ein, in dem er mitteilte, keinerlei Einwände gegen die Regensburger Rede zu haben. Dass überhaupt im syrischen Staat die christlichen Kirchen den Moscheen teilweise gleichgestellt sind, ist bei uns wenig bekannt.

Schwer nachvollziehbar ist es, wenn die amerikanische Politik Syrien zu den sog. „Schurkenstaaten“ zählt. Kein arabischer Staat im vorderen und mittleren Osten kann an den Maßstäben unserer westlichen Demokratie und unserer Vorstellung von Gerechtigkeit gemessen werden und keines der Regierungssysteme in dieser Region unterscheidet und unterschied sich wesentlich von denen der Nachbarländer. Verheerend für Friedensbemühungen in der Region des mittleren Ostens und für den Dialog mit dem Islam wäre es, wenn die politisch-moralische Klassifizierung eines arabischen Landes von dessen Bereitschaft abhinge, sich in politische und ökonomische Interessen der amerikanischen oder europäischen Politik einbinden zu lassen. Das Ergebnis der militärischen Disziplinierung des Iraks zeigt, wie realitätsfern ein solcher Bewertungsmaßstab ist, wie demütigend er von der arabischen Welt empfunden wird und welches politische Vakuum daraus entstanden ist, das niemand mehr in Griff bekommt und das Tag für Tag unschuldiges Blut fordert.

Die Zukunft Gottes in der Welt ins Gespräch bringen

Liebe Schwestern und Brüder, als Glaubende müssen wir immer neu die Zukunft Gottes ins Gespräch bringen. Der Blick in diese Richtung bewahrt uns vor Verengungen und Sackgassen. Das gilt für unseren Alltag ebenso wie für das öffentliche Leben. Menschen des Augenblicks werden blind. Partikularinteressen bestimmen dann das Handeln im Großen wie im Kleinen. Der Blick auf die Zukunft Gottes macht uns hingegen wachsam für die Zeichen der Zeit und bewahrt uns vor feigen Kompromissen. Wir dürfen es wagen, Unrecht zu benennen und Hoffnung zu verkünden.

Die Offenbarung des Johannes stellt uns für den Zielpunkt des Weges in die Zukunft, für den Anbruch des neuen Himmels und der neuen Erde nicht einen martialischen, siegreichen Feldherrn vor, sondern das Lamm, das geschlachtet wurde und dennoch Sieger und Herr der Geschichte ist. Im Lamm lässt uns Johannes das Symbol schlechthin für christliche Zukunft und christliche Vollendung schauen. Obwohl äußerlich schwach, hat es dennoch die größte Kraft entfaltet, der selbst die dunkelsten Mächte weichen mussten und müssen, die Kraft der Liebe Gottes. Die Kraft der Liebe wandelt das Hier und Jetzt in Zukunft. Dort bricht die Zukunft Gottes an, wo geliebt wird, geliebt mit der Kraft der Liebe Gottes. Das gilt für die Eltern, die Ja sagen zu einem weiteren Kind und ein Stück ihrer Lebenskraft drangeben. Das trifft zu für alle, die in großer Geduld Menschen auf dem Weg der Sinnfindung und des Glaubens begleiten. Das gilt für das gealterte Ehepaar, das sich in den Kreuzen und Leiden des Alltags gegenseitig stützt und erträgt, das gilt für Ehepartner, die tagtäglich ihre Grenzen erfahren und dennoch beim Ja zueinander bleiben. Überall schimmert Gottes Zukunft im Hier und Jetzt durch.

Liebe Schwestern und Brüder, wo immer wir im zurückliegenden Jahr 2006 aus der Kraft der Liebe Gottes lebten, da haben wir es nicht mit Vergangenheit, mit Geschichte zu tun, sondern da ist bereits die Zukunft angebrochen, die Zukunft Gottes.

Amen

© Pressestelle der Diözese Eichstätt