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Im Wortlaut

Hirtenwort des Bischofs von Eichstätt Gregor Maria Hanke OSB zur Österlichen Bußzeit am 1. Fastensonntag, dem 5. März 2017

Liebe Schwestern und Brüder,

bei einem Pastoralbesuch traf ich an der Mittelschule mit einer Gruppe von Schülern aus dem katholischen Religionsunterricht zusammen. Wie ich mir denn Gott vorstelle und was er für mich bedeute, fragten mich die Jugendlichen. Ob ich an ein Leben nach dem Tode glaube, wollten sie wissen, und wie dieses ewige Leben in der Liebe Gottes zu denken sei. Mitten im lebhaften Austausch warf eine Schülerin ein: "Wenn das Leben nach dem Tode bei Gott so schön ist, wie Sie sagen, warum hat er dann das irdische Leben überhaupt gemacht?"

Diese tiefe Frage eines jungen Menschen hat mich sehr beeindruckt. Warum hat Gott uns in diese irdische Welt gestellt, liebe Schwestern und Brüder? Um uns die Freiheit und die freie Entscheidung für ihn zu ermöglichen. Gott hat diese irdische Wirklichkeit geschaffen, weil er sich sehnt nach dem freien "Ja" des Menschen zu der Zukunft, in die er uns ruft. Gott ist kein Programmierer menschlicher Maschinen. Gott wartet auf das freie "Ja" des Menschen, das aus der Liebe kommt.

Die Freiheit der Kinder Gottes
Nicht wenige Menschen verbinden Freiheit mit der Vorstellung, Träume, persönliche Wünsche und Vorlieben ungehindert ausleben zu können. Eine solche Freiheit engt allerdings nicht nur meine Mitmenschen ein, sondern auch mich selbst. Nur den Wünschen meines Egos nachzujagen, sättigt nicht, sondern macht leer und hungrig. Wahre Freiheit gründet in der natürlichen Sehnsucht des Menschen nach tiefem Glück und Erfüllung, sie verwirklicht sich als Kraft und Fähigkeit, Gott als Erfüllung des Glücks und als letzte Bestimmung des Lebens anzuerkennen. Erfahrbar wird sie in der gelebten Beziehung mit Gott, wenn man das eigene Leben gemäß dieser Beziehung gestaltet. Der Apostel Paulus schreibt im Galaterbrief: "Zur Freiheit hat uns Christus befreit" (Gal 5,1) und meint die liebende Beziehung mit Gott als Raum unserer Freiheit.

Liebe Schwestern und Brüder, das Evangelium des 1. Fastensonntags von der Versuchung Jesu durch den Teufel in der Wüste dürfen wir als frohe Botschaft von der wahren Freiheit der Gotteskinder verstehen. Jesus hatte erkannt, dass die Zeit gekommen war, seine Sendung vom Vater zu ergreifen und sie öffentlich zu bezeugen. Vor Beginn seines Wirkens zieht er sich in die Einsamkeit der Wüste zur Begegnung mit dem Vater im Gebet zurück. Worum Jesus während dieser 40 Tage in seinem Inneren gerungen hat, können wir an den Angeboten und Provokationen des Versuchers ablesen.

Der Mensch Jesus wollte sich endgültig für die authentische Verwirklichung seiner göttlichen Sendung entscheiden, für die wahre und demütige Gestalt der Liebe des Vaters in seinem kommenden Wirken. Der Teufel bietet seine Alternative an, den Teufelskreis, bestehend aus dem Einsatz von Macht statt Liebe. Eher galant als furchteinflößend wirbt der Teufel dafür. Die Bibel jedenfalls lässt den Versucher gelehrt und beredt auftreten. Er zeigt sich bewandert in der Schrift, die er zu zitieren weiß, um sein Angebot plausibel zu machen. Jesus aber verbleibt in der Sehnsucht nach dem Willen des Vaters, er will nichts anderes wählen als Gott und seinen Plan. Sehnsucht nach Gott und seinem Willen ist Raum wahrer Freiheit, die inneren Frieden und Erfüllung schenkt. Jesu Haltung offenbart uns das Wesen der Freiheit der Gotteskindschaft: Die liebende Beziehung zu Gott über alles zu stellen und aus dieser Kraft heraus das Gute zu verwirklichen. Die Schrift überliefert, dass Jesus unmittelbar nach dieser Erfahrung in der Wüste die Menschen zur Umkehr rief: Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe (Mt 4,17). Sein Umkehrruf ist Einladung an die Menschen in die Freiheit für Gott.

Umkehr in die Freiheit
In der österlichen Bußzeit greift die Kirche Jesu Worte auf, um in die Freiheit der Kinder Gottes einzuladen: Kehrt um, bekehrt euch! Das Himmelreich ist nahe.

Unser Weg der Gotteskindschaft bedarf immer wieder der Umkehr. Im Alltag binden wir uns oft an das, was uns von Gott abhält und dem Nächsten schadet, wir geraten in die Gefangenschaft der Sünde.

Umkehr als Weg in die Freiheit für Gott ist keineswegs nur reuevolle Rückschau auf Gewesenes. Umkehr ist die Haltung der Sehnsucht nach Zukunft. "Bekehrt euch!", das meint: "Kehrt zurück in die Zukunft Gottes, die bereits angebrochen ist." Liebe Schwestern und Brüder, geben wir der Sehnsucht nach der Zukunft Gottes im eigenen Leben wieder Raum. Diese Umkehr macht uns Jüngerinnen und Jünger Jesu frei für den Dienst in seinem Namen an der großen wie unserer kleinen Welt. Kleine Schritte sind es oft, in denen die Zukunft Gottes aufscheint: im Eingestehen eines Fehlers, durch den ich einen Menschen verletzt habe, in der Bitte um Entschuldigung, ganz besonders im Gang zum Sündenbekenntnis in der Beichte. Verstehen wir den Ruf zur Umkehr in dieser österlichen Bußzeit als Einladung in Gottes Zukunft.

Umkehr und Reform der Kirche
Dass Umkehr nicht nur für den eigenen Weg der Jüngerschaft, sondern für die ganze Kirche von Bedeutung ist, macht uns das Jahr des Reformationsgedenkens bewusst, das uns auf die Spaltung der Christenheit des Westens vor 500 Jahren blicken lässt.

Lange vor der Reformation hatte sich das Verlangen nach einer geistlichen Erneuerung der Kirche und nach einer Reform an Haupt und Gliedern geregt. Auch in unserem Bistum Eichstätt hinterließ im 15. Jahrhundert dieses Mühen um Erneuerung positive Spuren dank des Einsatzes tatkräftiger Bischöfe und ihrer Helfer. Und doch befand sich die Kirche am Vorabend der Reformation vielfach in einem beklagenswerten Zustand. Verweltlichung, Streben nach Reichtum und politischer Macht von ganz oben bis unten, unzureichende Bildung des Klerus, das Übel des Ämterkaufs und Günstlingswirtschaft sowie eine oft oberflächliche religiöse Praxis vieler Gläubiger hatten die Kirche schwer geschädigt.

Der junge Augustinermönch Martin Luther war nicht zuletzt durch seine Lehrer von Geist und Spiritualität des Reformanliegens geprägt. Seine im Jahre 1517 in Wittenberg veröffentlichten Thesen beginnen mit dem Aufruf zur Buße: "Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: "Tut Buße […]", wollte er, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei."(1) Hier hat Luther ohne Frage Recht! Denn jede echte Reform in der Kirche muss mit Bekehrung beginnen. Allein der ungeteilte Weg zu Christus kann Weg der Reform sein. Unzweifelhaft waren für Martin Luther Person und Botschaft Christi die Mitte und der Maßstab des Glaubens.

Das Anliegen der Reform stieß jedoch einerseits auf mangelnde innerkirchliche Bereitschaft zur Erneuerung und vermischte sich andererseits mit menschlichem Geltungsstreben und politischen Eigeninteressen vieler Machthaber. So kam es zu einer wachsenden Polarisierung in der Kirche. Auch Martin Luther, der ursprünglich der Reform der einen Kirche dienen wollte, wurde zusehends ablehnender gegenüber den Lehren der Kirche und ihren Amtsträgern.

Hadrian VI. und die Reform der Kirche
Ein Hoffnungsschimmer für die Reform hätte das Pontifikat des gleichermaßen gebildeten wie frommen Papstes Hadrian VI. (1522-23) sein können. Mit all seinen Kräften verschrieb er sich der Umkehr von oben und gab mit seinem schlichten Lebensstil und seinem tiefen geistlichen Leben ein überzeugendes Beispiel. In drastischen Worten, die von Martin Luther selbst hätten stammen können, legte der reformwillige Papst vor dem Reichstag und dem Kaiser ein Bekenntnis von den Krankheiten ab, die Haupt und Glieder der Kirche erfasst hatten, und lud auf den gemeinsamen Weg der Reform ein.

Doch die Botschaft verhallte. Auch Martin Luther, der in Hadrians Bekenntnis eine Verwandtschaft hätte feststellen können, hatte sich bereits so weit von der Kirche entfernt, dass er kein gutes Wort mehr für den Papst und das Papsttum fand. Enttäuschungen, menschliche Dynamik und politische Interessen hatten eine Entwicklung in Gang gesetzt, die schließlich zur Spaltung der westlichen Christenheit führte.

Betrachtet man, wie sehr der Reformwillen Hadrians dem ursprünglichen Anliegen Luthers entsprach, drängt sich unweigerlich die Frage auf, ob der Bruch wirklich unvermeidlich war. Oder ist er vielmehr das tragische Ergebnis einer verpassten Bekehrung aller Beteiligten?

Wo Christus wächst, wächst die Einheit
Wenn wir im Gedenkjahr der Reformation auf die schmerzliche Trennung zwischen katholischen und evangelischen Christen blicken, soll uns daher auch bewusst werden, dass unsere stete Umkehrbereitschaft zu Christus ein Dienst an der Einheit ist. Beim Reformationsgedenken wollen wir überdies die sich seit der Reformation kontinuierlich verändernde Geographie des Christentums nicht außer Acht lassen. Bis in unsere Gegenwart hält weltweit eine Dynamik an, die immer neue Gruppierungen und Freikirchen hervorbringt.(2) In unser Beten um die Einheit, zu dem uns das Gedenkjahr einlädt, wollen wir diese Spirale der Zersplitterung einbeziehen.

Im Reformationsgedenkjahr dürfen wir besonders dankbar anerkennen, was die Konfessionen immer schon verbunden hat und was in den letzten Jahrzehnten an Einigung erreicht wurde. Wir Katholiken begehen das Reformationsgedenken zusammen mit unseren evangelischen Schwestern und Brüdern als gemeinsames Christusfest. Der Bitte Jesu um Einheit entsprechen wir, indem wir uns einträchtig auf die Person Christi und seine Botschaft ausrichten. Wo Christus unter uns wächst, wächst die Einheit.

Liebe Schwestern und Brüder, lassen wir uns durch den Umkehrruf Jesu in dieser österlichen Bußzeit neu auf den Weg der Gotteskindschaft rufen.

Dazu segne Euch der allmächtige und gütige Gott: der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.

Amen.

Eichstätt, Aschermittwoch, den 1. März 2017

Gregor Maria Hanke OSB
Bischof von Eichstätt


 

 


(1) Martin Luther, Disputationsthesen zur Klärung der Kraft der Ablässe („95 Thesen“), in: Martin Luther, Die 95 Thesen. Mit Quellen zum Ablassstreit herausgegeben von Johannes Schilling, Stuttgart 2016, 8-31, 9.

 

(2) Vgl. Benedikt XVI., Ansprache im Kapitelsaal des Erfurter Augustinerklosters (23. September 2011).